Slow Food entstand vor 35 Jahren. Die Bewegung protestierte gegen eine neu eröffnete Fast Food-Filiale von Mc Donalds bei der Spanischen Treppe in Rom. «Wir wollten nicht direkt den Konzern angreifen, aber die Tendenz damals, alle Lebensmittel industriell herzustellen», erinnert sich Slow Food Gründer Carlo Petrini. Gutes Essen liebt er noch immer. Der 72-Jährige macht es sich für das Gespräch mit SRF in einem Korbstuhl in seinem kleinen Wintergarten seiner Wohnung in Bra im piemontesischen Hügelland bequem. Am Abend zuvor hat er bei einer Veranstaltung etwas über die Stränge geschlagen. Er grinst: «Nun haben wir alle einen etwas schweren Bauch.»
Gegründet hat Petrini Slow Food im Piemont, in Norditalien. Ursprünglich war es eine Bewegung, die gutes Essen und Wein zelebrierte. Der Zusammenschluss von Gourmets entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einer weltweiten Bewegung mit Netzwerken von Fischerinnen oder Bauern in über 150 Ländern. Denn: Gutes Essen gibt es nur, wenn es unter guten Bedingungen produziert wird, so die Feststellung der Gourmets. «Bei Slow Food reden wir schon lange nicht mehr nur über kulinarische Freuden, sondern über Wirtschaft, Umwelt, Biodiversität. Dieser ganzheitliche Ansatz lebt in diesem Netzwerk mit dem Namen ‘Terra Madre’».
UNO-Ernährungsgipfel «lächerlich»
Bei uns ist Carlo Petrini weniger bekannt. Die britische Zeitung «The Guardian» bezeichnet ihn aber als einen jener 50 Menschen, die die Welt verändern können. Die UNO verlieh ihm 2013 ihren höchsten Umweltpreis. Und Petrini? Er hält wenig von Auszeichnungen. Er will handeln, entscheiden. Und er kritisiert aktuell auch die UNO als Vereinigung sämtlicher Nationen. Den Ernährungsgipfel der UNO vom September bezeichnet er als «lächerlich».
«Die lokalen Produzentinnen und Produzenten, die das Gros unserer Nahrung erzeugen, hatten da keine Stimme», ereifert sich Petrini. «Kein Wort zur Agroökologie, um nachhaltiger Lebensmittel zu produzieren.» Versprochen wurden am Gipfel Gelder in Billionenhöhe. «Es gibt aber keine Angaben, wer sie genau erhalten soll», kontert der Slow-Food-Präsident. «Das ist wirkungslos.»
Ein solches Urteil fälle er nicht allein, ergänzt Petrini. Sein Vize-Präsident aus Uganda hat ihn auf diesen Missstand hingewiesen. Seine Bewegung brauche auch keinen obersten Boss. Er sei eher «gepflegt anarchisch» unterwegs: «Ich als Italiener kann nicht über Aktionen von Genossenschafterinnen in Chile oder Uganda entscheiden. Sonst ist die Bewegung euro-zentristisch. Und das ist nicht gut.»
Prinz Charles und Papst Franziskus
Carlo Petrini redet gern. Dabei sucht Slow Food Gründer das Gespräch nicht nur mit Seinesgleichen. So pflegt er auch international illustre Freundschaften, zum Beispiel mit Prinz Charles. «Das macht mich noch lange nicht zum Monarchisten», scherzt er.
Der Sohn eines Gewerkschafters ist auch regelmässig im Austausch mit Papst Franziskus – auf Piemontesisch. «Ich bin Agnostiker, ich kann nicht glauben. Wir sind da sehr offen. Weder bin ich im Alter sensibler geworden, noch ist der Papst Sozialist.»
Gute Lebensmittel für alle
Carlo Petrini ist ein bekennender Gourmet. Das hat ihm auch die Kritik eingetragen, seine Bewegung Slow Food sei allein dazu da, um teure Produkte für eine elitäre Klientel zu fördern. Das lässt der 72-jährige Slow Food Gründer so nicht gelten: «Das ist komplett falsch!» Mit ausladenden Gesten sucht er nach einem Wortbild und sagt dann: «Das ist ja, wie wenn man dem Feind die Pistole gibt mit der Aufforderung: Erschiess mich!»
Alle haben ein Recht auf gute Lebensmittel.
Für Petrini ist es falsch, wenn Konzerne viel Geld verdienen, wenn sie Lebensmittel von schlechter Qualität günstig an arme Leute verkaufen. «Alle haben ein Recht auf gute Lebensmittel.» Dafür braucht es korrekte Preise, damit die Bauernfamilien auch davon leben können. Sonst kehrt niemand auf die Felder zurück, ist er überzeugt. Die Lösung: Wer weniger Lebensmittel wegwirft, hat mehr Budget für gutes Essen.
Universität der gastronomischen Wissenschaften
Der Soziologe ist überzeugt, dass die Lebensmittelwirtschaft ein grundsätzliches Problem hat. Die Agronomin weiss zwar viel über Böden, der Koch viel über die Speisen. «Die Wissenschaft fragt aber zu wenig, welchen Einfluss Lebensmittel auf die Menschen und ihre Umwelt haben.»
2004 hat er sich deshalb einen Herzenswunsch verwirklicht und im Nachbarort Pollenzo die Universität der Gastronomischen Wissenschaften gegründet. Die Studentinnen und Studenten lernen eine ganzheitliche Sicht: Es lohnt sich, die regionalen Traditionen zu kennen, um neue Ideen zu entwickeln. «Die Innovation ist eine Tradition, die sich gut entwickelt hat.»
Ernährung umstellen mit Slow Food
Die Menschheit steht vor dem grössten Wandel seit der industriellen Revolution, sagt der 72-jährige Denker. Damit die Menschen solch grosse Veränderungen – gerade bei der Ernährung – verinnerlichen können, braucht es Jahrzehnte, wenn nicht. «Der Klimawandel wird uns aber diese Zeit nicht geben», befürchtet Petrini. Doch er ist überzeugt: «Wenn Netzwerke wie Slow Food regionale Wirtschaften stärken, kann das die gesamte Weltwirtschaft schnell und nachhaltig verändern.»
Mein Lieblingsessen? Pasta mit Tomatensauce. Weder die Pasta noch die Tomaten stammen ursprünglich aus Italien.
Damit das gelingt, braucht es ein Miteinander, kein Gegeneinander, mehr Dialog. Dieses Miteinander verschiedener Kulturen zeigt sich gar im Lieblingsessen von Carlo Petrini. Der Gourmet grinst verschmitzt: «Mein Lieblingsessen? Pasta mit Tomatensauce. Weder die Pasta noch die Tomaten stammen ursprünglich aus Italien. In solchen Gerichten lebt die Geschichte und der Dialog verschiedener Kulturen – und die Resultate sind hervorragend!»
Mulino Sobrino: So geht Slow Food
Die Mühle der Familie Sobrino befindet sich mitten im Dorf La Morra im Weinbaugebiet Langhe im Piemont. Stefano Sobrino ist Müller in der 4. Generation. «Wir verarbeiten seit 1993 Biogetreide von rund 30 Betrieben aus der Region», sagt der 27-Jährige. Die Mehle verkaufen sich gut. Sobrino kann deshalb den Produzenten auch gute Preise zahlen.
Wir leben von Mund-zu-Mund-Propaganda. So geht das auf dem Land.
Das war aber nicht immer so. «Auf dem Land war das Geschäft hart. Es war schwer, gegen das billige Industrie-Weissmehl zu bestehen.»
Der Fokus auf Bio-Produktion und die regionalen Netzwerke haben ihm und etlicher Produzenten das Überleben gesichert, ist Sobrino überzeugt und lächelt: «Wir leben weiter von Mund-zu-Mund-Propaganda. So geht das auf dem Land.»