Wenn es um die Lebensmittelindustrie in Mexiko geht, hält sich der stellvertretende Gesundheitsminister Hugo Lopez-Gatell nicht zurück: «Nationale und globale Wirtschaftsakteure sollten nicht die öffentliche Politik bestimmen.»
Der Grund für seinen Ärger zeigt sich in den Zahlen der nationalen Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2020: 38 Prozent aller Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sind übergewichtig oder gar fettleibig. Über drei Viertel der Mexikanerinnen und Mexikaner sind zu dick.
Die Hälfte aller Todesfälle und Erkrankungen ist auf schlechte Ernährung zurückzuführen.
Lebensmittelindustrie behindert Initiativen gegen Übergewicht
Um der Fettleibigkeit entgegenzuwirken, beschloss die mexikanische Regierung, dass die Lebensmittelindustrie ihre Produkte mit klaren Kennzeichnungen versehen muss.
Es soll explizit vor einem Übermass an Kalorien sowie hohen Zucker- und Fettgehalten in vorgefertigten Lebensmitteln und Softdrinks gewarnt werden.
Multinationale Unternehmen, so auch Nestlé, torpedieren diese Massnahmen durch Lobbyarbeit im mexikanischen Parlament oder auf Minister-Ebene über die Welthandelsorganisation WTO. Das Argument: Die Kennzeichnungen seien ein Handelshemmnis.
Nestlé kämpft auf allen Ebenen
Laut Marktdaten, die der Nichtregierungsorganisation Public Eye vorliegen, belief sich der Einzelhandelsumsatz von Nestlé-Produkten, denen in Mexiko schwarze Warnhinweise drohten, 2019 auf über eine Milliarde Franken.
Nestlé wehrt sich und fordert in Mexiko ihre Zulieferer auf, Druck auf die Regierung zu machen. Der Konzern begründet: Es würden Arbeitsplätze zerstört, denn die Konsumentinnen und Konsumenten könnten die Warnhinweise nicht einordnen.
Die Ursache der Fettsucht-Epidemie ist das Überangebot und der Überkonsum.
Der Milliardenkonzern vom Genfersee wendet sich auch ans Staatssekretariat für Wirtschaft Seco und bittet um Hilfe. Der Mailverkehr zwischen dem Seco und Nestlé liegt SRF vor.
Das Bundesamt reagiert. Ohne Absprache mit der Branche zu treffen, interveniert das Seco auf WTO-Ebene sowie im mexikanischen Gesetzgebungsverfahren. Es folgt mehr oder minder Nestlés Argumentation und äussert Bedenken bezüglich der Regelung.
Das Schweizer Aussendepartement EDA reagiert überrascht über den Alleingang des Seco. Aus dem E-Mail Austausch zwischen Seco und EDA geht hervor, dass eine offizielle Intervention des Seco in Zusammenarbeit mit allen betroffenen Schweizer Unternehmen hätte erfolgen sollen.
Timo Kollbrunner, von Public Eye, hat die internen E-Mails der Bundesämter und Nestlé analysiert und sagt: «Letztlich diktiert Nestlé, wo die Probleme sind. Seco fragt bei Nestlé nochmals nach, wo man intervenieren soll. Dann wird es genau so gemacht, wie der Konzern vorschlägt.»
Illegal sei das nicht, aber dennoch problematisch, denn letztlich diktiere so ein mächtiger Konzern die offizielle Schweizer Position.
Hugo Lopez-Gatell, stellvertretender Gesundheitsminister von Mexiko, findet die Haltung der Industrie unverantwortlich und egoistisch: «Die Ursache der Fettsucht-Epidemie ist das Überangebot und der Überkonsum genau derjenigen Produkte, welche diese Unternehmen herstellen.» Denn die Unternehmen würden ihre wirtschaftlichen Interessen über die Gesundheit der Bevölkerung stellen.
Die Ernährungsgewohnheiten in Mexiko dürften sich so schnell nicht ändern – die wirtschaftlichen Interessen der Grosskonzerne aber auch nicht.