Immobilienbesitzer in den USA können ihre Hypothekarzinsen nicht mehr bezahlen, die Lage spitzt sich zu – als das Wirtschaftsmagazin «ECO» 2007 über den Immobilienmarkt in den USA berichtet, hat fast niemand vor Augen, welche weltweiten Ausmasse diese Krise annehmen würde. Und dass sie der Anfang sein würde einer Zeit der Krisen, die bis heute dauert.
Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann beobachtet seitdem eine ungewöhnliche Häufung von Finanzkrisen. «Der Grund ist, dass wir ein global integriertes Finanzsystem haben», sagt er. «Es ist sehr schnell und sehr liberal geworden. Das macht das System verletzlicher.»
Bei Störungen sei die Gefahr viel grösser als früher, dass es sofort grenzüberschreitende Ansteckungsprozesse gebe.
Wir blicken zurück und ordnen die damaligen Ereignisse aus heutiger Sicht ein.
2007: Immobilienkrise in den USA
Millionen von US-Amerikanern haben über Kredit-Broker Hypotheken aufgenommen, die sie sich nicht leisten konnten.
Finanziert werden die Hypotheken, indem Verbriefungsfirmen die Kredite zu undurchsichtigen Produkten bündeln. Als diese wertlos werden, schreiben die Banken Milliardenverluste. Dies führt zur nächsten Krise.
2008: Globale Finanzkrise
«Die Banken sind seit den 1990er Jahren überall viel zu schnell gewachsen, und gleichzeitig haben sie sich auch massiv verschuldet», sagt Tobias Straumann. «Sie haben am Schluss fast kein Polster mehr gehabt, um einem Abschwung auf dem Immobilienmarkt Widerstand leisten zu können.»
Im September geht die viertgrösste Investment Bank der Welt, Lehman Brothers, Konkurs.
Thomas Jordan, zu jener Zeit Direktoriumsmitglied der Schweizerischen Nationalbank, heute dessen Präsident, sagte damals: «Wir sind zweifellos in einer grossen Finanzmarktkrise, der grössten Krise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts.»
Die Krise trifft auch die Schweiz. Die UBS hatte allein 2007 in den USA 20 Milliarden Franken verloren. Im Oktober 2008 müssen Bund und Nationalbank die UBS retten. Ein Hilfspaket in der Höhe von 60 Milliarden Franken wird geschnürt. Die Bank kann ihre maroden Wertpapiere über die Nationalbank auslagern.
Für Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann war das ein Wendepunkt für die Wahrnehmung der Banken. «Es hat das Vertrauen erschüttert, weil man vorher immer das Gefühl hatte, sie schwingen zwar grosse Reden, aber sie haben es im Griff. Und plötzlich hat man gemerkt: Sie haben es nicht im Griff.»
Vermutlich wäre Barack Obama ohne Finanzkrise nicht gewählt worden.
Es habe in den USA zehn Jahre gedauert, bis das Niveau von vor der Krise wieder erreicht worden sei. Die Finanzkrise habe auch starke politische Auswirkungen gehabt.
Tobias Straumann: «Ich glaube, dass sie die Polarisierung verstärkt hat. Vermutlich wäre Barack Obama ohne Finanzkrise nicht gewählt worden. Und auch die Wahl von Donald Trump hat indirekt damit zu tun.»
Auf dem europäischen Kontinent kämpft man bald mit der nächsten Krise.
2011: Schuldenkrise der EU
Die Schuldenkrise droht die Europäische Union zu zerreissen. Im Zentrum steht zunächst Griechenland, dessen Staatshaushalt nach dem Wegfall der nationalen Währung in grobe Schieflage geraten ist.
Als Mario Draghi im November 2011 neuer Chef der Europäischen Zentralbank wird, senkt er als Erstes die Zinsen, um den drohenden Abwärtstrend der Wirtschaft zu stoppen. Doch es reicht nicht. Daraufhin lässt Draghi Geld regnen. Mit dem unlimitierten Kauf von Staatsanleihen sollen Griechenland und die Europäische Währungsunion gerettet werden.
Am 26. Juli 2012 spricht er die Worte: «Die EZB wird alles unternehmen, um den Euro zu erhalten.» Ein Satz mit Signalwirkung. Tobias Straumann ist überzeugt: «Wenn er das nicht gemacht hätte, wäre der Euro auseinander geflogen.»
Es habe allerdings viel zu lange gedauert, bis die EZB gehandelt habe. «Es wäre alles vermeidbar gewesen: die hohe Arbeitslosigkeit und die politischen Folgen. Die schlimmsten Auswüchse der Eurokrise hätte man verhindern können, wenn die EZB gleich von Anfang an 2010 klargestellt hätte, dass sie alles unternimmt und wirklich hinter dem Euro steht.»
Die Intervention der EZB führt zu einer Krise in der Schweiz.
2011: Frankenkrise in der Schweiz
Der Franken gewinnt gegenüber dem Euro immer mehr an Wert. Die Schweizer Wirtschaft droht ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Auch hier schreitet die Nationalbank ein.
Philipp Hildebrand verkündet im September 2011 als Präsident der Schweizerischen Nationalbank den Mindestkurs von 1.20 Franken zum Euro. «Die Nationalbank wird diesen Mindestkurs mit aller Konsequenz durchsetzen. Sie ist bereit, unbeschränkt Devisen zu kaufen.»
«Instabilitäten auf dem Währungsmarkt haben sich schon immer auf den Schweizer Franken ausgewirkt. Das ist nicht neu», sagt Tobias Straumann. «Aber wir leiden enorm darunter, dass die Europäische Währungsunion nicht richtig funktioniert.»
Mehr als drei Jahre lang hält die Nationalbank den Franken mit immensem Aufwand stabil. Im Januar 2015 greift sie – jetzt mit Thomas Jordan am Steuer – zu einem zusätzlichen Instrument: den Negativ-Zinsen.
Im Januar 2015 hebt die Nationalbank den Franken-Mindestkurs wieder auf. Die Negativ-Zinsen dauern bis heute an.
Im letzten Jahr kam eine neue Krise hinzu, in der wir uns bis heute befinden.
2020: Globale Covidkrise
Die Covidkrise kostet weltweit Millionen Menschen das Leben, in der Schweiz sind bis heute mehr als 10'000 Menschen an dem Virus gestorben.
Die Gegenmassnahmen haben gewaltige wirtschaftliche Auswirkungen: Sie bedrohen in der Schweiz Zehntausende von Arbeitsplätzen. Sehr schnell beschliesst der Bundesrat ein Hilfspaket von 42 Milliarden Franken.
Wir kommen nicht mehr aus diesem Krisenmodus heraus. Die Feuerwehr muss wieder nach Hause, wenn der Brand gelöscht ist.
Finanzminister Ueli Maurer ist dieses Mal die Person, die eine Botschaft der Stabilität aussendet. Er sagt an einer Medienkonferenz: «Kann der Bund überhaupt 42 Milliarden Franken ausgeben? Ja, ich kann Ihnen versichern, dass er das kann.»
In der aktuellen Krise beobachtet Tobias Straumann auch positive Zeichen. «Man sieht bei der Covidkrise, dass man direkt aus der Finanz- und Eurokrise gelernt hat. Man ist innerhalb von wenigen Tagen nach einem kurzen Zögern mit aller Kraft eingestiegen und hat die Panik sofort beendet. Das war sehr gut.»
Wir seien besser geworden in der Krisenbekämpfung. Allerdings: «Das Hauptproblem ist, dass wir nicht mehr aus diesem Krisenmodus herauskommen. Die Feuerwehr muss wieder nach Hause, wenn der Brand gelöscht ist. In Europa ist die Feuerwehr aber ständig im Einsatz und dadurch auch in der Schweiz.»