Da ein Kratzer, dort eine leichte Schalen-Verfärbung oder eine kleine Stelle mit Schorf. So sehen viele Kartoffeln aus. Kein Wunder, die Kartoffelknollen sind vier Monate im Boden herangereift und mussten sich gegen Angriffe von Pilzen und Schädlingen zur Wehr setzen.
Eigentlich würde eine Kartoffel mit äusseren Makeln den selben Essgenuss bieten wie eine ohne. Doch bei den peniblen Kontrollen beim Grosshandel fällt sie durch.
Kleine Schönheitsfehler reichen aus, sie zu deklassieren und gar nicht erst im Verkaufsregal anzubieten. Weil sie der Konsument angeblich nicht kauft. Sagt der Handel.
Ein Irrsinn?
Und so scheitert jede dritte geerntete Speisekartoffel an irgendeinem der zahlreichen Qualitätskriterien, die in den sogenannten Handels-Usanzen festgehalten sind – abgesegnet von der gesamten Kartoffelbranche, also den Produzenten, Verarbeitern und dem Handel.
Urs Reinhard ist Präsident von Swisspatat, der Branchenorganisation. Auf die Frage, ob man es mit den optischen Qualitätsansprüchen nicht etwas übertreibe, zeigt er sich selbstkritisch: «Ehrlich gesagt: Da stellt man sich schon die Frage: Ist das noch sinnvoll? Ist es wirklich so, dass der Konsument das nicht kaufen würde?»
100 Mio. Kilogramm zu Viehfutter deklassiert
Statt im Verkaufsregal landen sie im Futtertrog – und zwar mehr als vermutet. Über 100 Millionen Kilogramm Kartoffeln pro Jahr müssen Bauern ihren Kühen verfüttern. Entgangener Verkaufserlös: rund 25 Millionen Franken.
Mindestens die Hälfte der deklassierten Kartoffeln sei problemlos essbar, kommt eine Studie der Berner Fachhochschule 2014 zum Schluss.
Für Bauern alles andere als lustig. Denn sie haben viel investiert. 10'000 Franken pro Hektare allein für Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel. Wenn der Ausschuss 30 Prozent und mehr beträgt, wird der Kartoffelanbau für sie zum Verlustgeschäft.
Die perfekte Kartoffel zwingt Bauern zudem, viel Pflanzenschutzmittel einzusetzen, um Knollen im Boden vor Pilzen, Bakterien und kleinen Tierchen zu schützen.
Paradox: Konsumenten wollen möglichst keinen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Für Ruedi Fischer, Präsident der Kartoffelproduzenten VSKP, ist aber klar: «Mit den heutigen Qualitätsanforderungen ist es schwierig, den Pflanzenschutz zurückzufahren.»
Rigorose Kontrollen dank Hightech-Maschinen
Anstatt weniger penibler Kontrollen wird die Suche nach der perfekten Kartoffel eher perfektioniert. Verarbeiter investieren in Hightech-Maschinen. Mit Kameras ausgerüstet sortieren sie zuverlässiger als jeder Mensch.
Ruedi Fischer, der oberste Kartoffelbauer, befürchtet, dass der Ausschuss-Anteil noch grösser werden könnte. Doch dagegen will er sich zur Wehr setzen.
Bei den Speisekartoffeln beträgt der gesamte Ausschuss vom Acker bis zum Teller über 50 Prozent. Ein Irrsinn.
«Die Konsumenten sind visuell orientiert»
Die Grossverteiler berufen sich darauf, sich an die gesetzlichen Vorgaben und die branchenspezifischen Handels-Usanzen zu halten. Die Migros schiebt den Ball zudem an die Konsumenten weiter: «Gerade im Offenverkauf zeigt sich, dass die Konsumenten nach wie vor sehr visuell orientiert sind.»
Doch da machen Dominik Waser und sein Verein Grassrooted ganz andere Erfahrungen. Ihr Geschäftsmodell: Was dem Handel nicht perfekt genug ist, soll ihnen recht sein. Sie kaufen von Bauern Gemüse, das der Handel abgelehnt hat.
Und sie verkaufen es 20 Prozent günstiger als im Laden, an teuerster Lage am Hauptbahnhof in Zürich. «Es kommen immer mehr Leute, neue Leute, aber auch Stammkunden. Das fängt jetzt richtig an», so Dominik Waser.
Der Erfolg von Dominik Waser und seinen Gleichgesinnten zeigt: Kartoffeln, die im Futtertrog von Kühen landen, könnten problemlos auch auf unseren Tellern liegen.
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