SRF News: Der britische Premierminister David Cameron hat in Davos beschwichtigt: Er sei zuversichtlich, dass ein Brexit abgewendet werden könne. Sind Sie auch so zuversichtlich?
Ich bin relativ optimistisch. Die Meinungsumfragen sind immer alarmistisch – wir kennen das zum Beispiel vom Schottland-Referendum 2014. Ich denke, am Ende werden die Wähler für Europa stimmen.
Manche Briten glauben, die EU brauche Grossbritannien mehr als Grossbritannien die EU.
Grossbritannien spielt seit den siebziger Jahren eine wichtige Rolle in Europa. Margret Thatcher war in den siebziger und achtziger Jahren für Europa – das haben die so genannten Euroskeptiker einfach vergessen. Es gab damals gute Gründe, als Brite für Europa zu sein: die Einheitliche Europäische Akte zum Beispiel (der Vertrag, der den Europäischen Binnenmarkt besiegelte – Anm. der Redaktion) war eine britische Idee. Grossbritannien hat also die europäische Entwicklung durchaus positiv beeinflusst. Wir waren nur gegen die Währungsunion – und das war richtig. Heute denken viele Briten, Europa sei wirtschaftlich gescheitert. Der Grund dafür ist eine Währungskrise, die wir vorausgesehen haben.
Heute ist die Rede vom Untergang der Europäischen Union. Ist das nicht auch ein bisschen Koketterie, und am Ende will man die Sicherheit dieses wirtschaftlichen und politischen Raumes gar nicht aufgeben?
Ich hoffe, dass das so ist. Ich sehe derzeit vor allem zwei Gefahren. Die erste ist Populismus – von links wie von rechts. Die andere ist der Islamismus. Beide sind sehr gefährlich, weil Terrorismus Populismus fördert. Je mehr Terror wir in Europa sehen, desto mehr Stimmen bekommen die Populisten. Und das ist meines Erachtens die grösste Gefahr.
Interessanterweise sehen Menschen von ausserhalb Europa viel positiver als die Europäer selbst…
Wenn man in Syrien lebt, scheint Europa natürlich wie ein Paradies. Und Länder wie die Türkei oder die Ukraine wollen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen dabei sein. Es ist eine Tatsache, dass Europa Einwanderung braucht. Aber gefährlich wird es, wenn diese unkontrolliert abläuft – aus Sicherheitsgründen und aus kulturellen. Die politischen Verantwortlichen haben den Unterschied zwischen kontrollierter Einwanderung und Anarchie nicht verstanden. Den meisten Menschen ist dieser Unterschied aber sehr wichtig. Sie verstehen, dass wir Arbeitskräfte brauchen. Was sie nicht verstehen, ist Anarchie an der Grenze.
Im Moment fehlt es an Führungsstärke – fast überall.
Europa steht vor vielen Problemen: Einwanderung, Jugendarbeitslosigkeit, fehlendes Wachstum, Überalterung. Was tun?
Die grösste Verantwortung für Reformen tragen die nationalen Regierungen. Zu hohe Steuern, zu hohe Ausgaben – das sind alles nationale Probleme. Die Europäische Union hingegen ist nur eine relativ kleine Organisation. Sie hat zwar Macht im juristischen Sinne, aber wirtschaftlich gesehen ist sie relativ schwach. Deshalb machen sich in meinen Augen Politiker in Paris, Berlin und Rom, die Brüssel anklagen und versuchen, europäische Probleme nach Brüssel zu delegieren, der Heuchelei schuldig. Im Moment fehlt es an Führungsstärke – fast überall.
Sie rufen also die europäischen Länder dazu auf, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Genau. Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa, Brüssel ist nicht Washington. Die Frage, wie das Wachstum angekurbelt werden kann, ist keine Frage, die die europäischen Institutionen beantworten können – mit Ausnahme der Europäischen Zentralbank. Sie ist die einzige echte föderalistische Institution in Europa.
Und mit Wachstum könnte man viele Probleme lösen?
Natürlich. Und in diesem Sinne ist Wachstum das grösste Problem von Europa.
Das Interview führte Isabelle Jacobi. In der Sendung «Echo der Zeit» wurde eine leicht gekürzte Form ausgestrahlt.