SRF News: Reto Lipp, wie jedes Jahr Ende Januar trifft sich die Weltwirtschaft wieder in Davos. Welche Veranstaltungen versprechen Ihrer Meinung nach Interessantes?
Reto Lipp: Es gibt natürlich unzählige Veranstaltungen. Hier den Überblick zu bewahren, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Spannend finde ich Themen, die noch ziemlich kurzfristig ins Programm gehoben worden sind. Zum Beispiel, was eigentlich mit Chinas Wirtschaft los ist, welche Bedeutung Sicherheit für die Menschen angesichts der vielen Terroranschläge hat oder auch wie sich die technische Revolution auf den Finanz- und Bankensektor auswirkt. Daneben gibt es in vielen Hotels und Veranstaltungssälen rund ums WEF herum Dutzende von spannenden Meetings und Vorträgen.
Das WEF hat die Digitalisierung zu seinem diesjährigen Thema gemacht. Es ist die Rede von der vierten industriellen Revolution. Was heisst das genau?
Die Roboter und Computer werden immer intelligenter – sie werden einen immer grösseren Teil unserer Arbeit übernehmen. Viele Jobs im Mittelstand könnten dadurch in Gefahr geraten, denn jetzt kommen auch Buchhalter, persönliche Assistenten, Anlageberater, Fondsmanager, Wirtschafsprüfer oder sogar Ärzte unter Druck. Die künstliche Intelligenz der Computer ist oft gründlicher, genauer und effizienter als jene des Menschen – denn Computer können auf viel mehr Daten zurückgreifen und diese auch in Windeseile analysieren. Diese Jobs, die da gefährdet sind, sind meist gut bezahlt und bilden in vielen Ländern den gut situierten Mittelstand. Sollten sie wegfallen, käme das einer sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe gleich.
Ihre Einschätzung: Was wird die Digitalisierung mit Unternehmen und Arbeitsplätzen machen?
Wir haben es kürzlich in unserer Robotik Sendung gezeigt: Studien sprechen davon, dass 50 Prozent der Jobs angesichts der Digitalisierung gefährdet sind. Derzeit läuft eine grosse Debatte ab zwischen jenen Ökonomen, die diese Entwicklung sehr kritisch sehen und anderen, die darauf hinweisen, dass es in der Wirtschaftsgeschichte immer neue Technologien gegeben hat, die altes verdrängt und Jobs vernichtet haben. Trotzdem ist der Wohlstand als Ganzes immer weiter gewachsen. Ich persönlich gehöre eher zur Fraktion jener, die glaubt, dass rund um die Computer viele neue Jobs entstehen werden. Und vielleicht ist es ja auch gut, wenn Computer teilweise langweilige und repetitive Tätigkeiten oder Daten-Erhebungen übernehmen. Nur stellt sich natürlich die Frage, wie man den Reichtum, den Computer erschaffen, sozial verträglich verteilt. Das erfordert neue Ideen. Gleichzeitig sind die Anforderungen der neuen Jobs ganz andere, was unser Bildungssystem stark herausfordert.
In Davos rückt man ein zweites Thema in den Fokus, das angesichts von Terroranschlägen, Konflikten und Flüchtlingsströmen ohnehin im Zentrum aller Aufmerksamkeit steht: globale Sicherheit. Was soll das WEF hier beitragen oder bewirken können?
Viel bewirken werden die Diskussionen sicher nicht, aber das WEF hat das Thema Sicherheit ganz oben auf die Agenda gesetzt. Zudem wird es hinter den Kulissen zu Treffen von Politikern aus exponierten Staaten kommen. Es ist gut möglich, dass sich beispielsweise Vertreter aus dem Iran und Saudi-Arabien treffen. Hier könnten Deeskalations-Gespräche sicher gut tun. WEF-Gründer Klaus Schwab legt viel Wert auf persönliche Treffen verfeindeter Delegationen.
Hat das WEF Potenzial, auch politisch etwas zu bewirken?
Das ist natürlich immer die Ambition von Klaus Schwab – wie erfolgreich er damit ist, lässt sich nicht beantworten. Was aber in Krisen sicher immer gut ist, ist die Tatsache, dass sich die Entscheidungsträger persönlich kennen – und gerade dieses persönliche Kontakteknüpfen ist eines der Markenzeichen von Davos. Hier – abgeschottet vom Rest der Welt – kann man viel einfacher mal auf einen politischen Gegner zugehen als sonst im Laufe des Jahres, hier ist alles etwas informeller. Persönliche Kontakte sind das A und O des WEF.
Auch dieses Jahr gibt es wieder eine SRF-Live-Debatte – dieses Mal zum Thema «Die Zukunft der Bildung: Lektionen in Ungewissheit». Was hat es damit auf sich?
Zum zweiten Mal schon ist SRF Gastgeber einer grossen Debatte – und es ist kein Zufall, dass das Thema Bildung heisst. In einer Zeit, wo die Schweiz ihre Konzeption der Lehre sogar exportiert, ist es an der Zeit, über das grosse Thema unserer Zeit zu diskutieren, denn viele Politiker merken inzwischen, dass Bildung der wichtigste Faktor ist, um Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu bekämpfen.
Bildung ist das zentrale Thema dieses Jahrzehnts – nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. Man kann übrigens Fragen einreichen für diese Debatte.
Welche politischen Akteure werden vor Ort sein?
US-Vizepräsident Joe Biden ist für mich der Stargast. Daneben treten unter anderem auf: Sigmar Gabriel, deutscher Vize-Kanzler, Manuel Valls, französischer Premierminister, Alexis Tsipras, griechischer Premierminister, und der US-Aussenminister John F. Kerry. Es sind aber auch Regierungschefs aus Südamerika da, etwa die Präsidenten von Mexiko, Kolumbien und Peru sowie die libanesischen und israelischen Premierminister und der afghanische Präsident.
Sie werden wieder Dutzende Interviews im Freiluftstudio führen. Wer steht bereits auf Ihrer Liste?
UBS-Präsident Axel Weber, Gewerkschafter Phlipp Jennings, PWC-Schweiz Chef Urs Honegger, CS-Chef Tidjane Thiam, Star-Historiker Niall Ferguson, China-Kenner Ian Bremmer, ABB-Chef Ulrich Spiesshofer, Vontobel-Präsident Herbert J. Scheidt, Roche-Präsident Christoph Franz, Swiss-Chef Thomas Klühr und viele andere kommen dazu, dann natürlich sämtliche Bundesräte insbesondere Bundespräsident und Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann, der neue Finanzminister Ueli Maurer und natürlich Verteidigungsminister Guy Parmelin.
Welche Fragen haben Sie in petto?
Natürlich beschäftigt uns quasi als roter Faden durch alle Interviews hindurch, wie stark sich die neue industrielle Revolution konkret auf Jobs und die einzelnen Branchen auswirkt. Wer ist am meisten betroffen? Welche Job-Bilder sind gefährdet? Wo tun sich neue Chancen auf? Wie geht eine Gesellschaft mit der technologischen Entwicklung um? Was versteckt sich hinter dem Modewort Disruption? Daneben werden die Turbulenzen in China, die Herausforderungen des Klimawandels und der Kampf um Wasser zentrale Themen der Diskussion sein.
Können Zuschauer Ihnen Fragen mitgeben?
Ihre Fragen für Reto Lipp
Ich freue mich sehr auf Fragen der Zuschauer auf Twitter und Facebook. Wann immer es die Zeit erlaubt, werde ich vor anstehenden Interviews dazu aufrufen, mir Fragen an die betreffenden Interviewgäste zu zusenden. Es ist immer gut zu wissen, welche Themen die Zuschauer besonders interessieren – je mehr Fragen, desto besser. Alle WEF-Interviews werden dann auch wieder im Netz integral zu sehen sein (www.srf.ch/wef)
Wer ist Ihnen vom letzten Jahr besonders in Erinnerung geblieben?
Spannend und engagiert finde ich Gewerkschaftsvertreter Philipp Jennings, der immer einen besonderen Farbtupfer in die WEF-Diskussionen bringt und die manchmal etwas abgehobenen Konzernchefs wieder auf die harten sozialen Realitäten hinweist und ihnen manchmal auch die Leviten liest. Interessant auch immer «Huffington Post»-Präsidentin Arianne Huffington, die es geschafft hat, mit einer Internet-Zeitung Geld zu verdienen – in diesen Medienumbruchszeit ein gewaltiger Erfolg. Am witzigsten ist aber immer mein fast schon traditionelles Schlussinterview mit CNN-Star Richard Quest. Bei ihm muss man wahnsinnig aufpassen, überhaupt mal eine Frage dazwischen werfen zu können, denn Richard Quest hat seine Show voll im Griff.
Teilnehmer am WEF zahlen vier- bis fünfstellige Summen, um dabei zu sein. Wofür eigentlich?
Das WEF ist nicht nur eine grosse Schwatzbude, es ist natürlich immer ein guter Treffpunkt, um Geschäfte anzubahnen oder um zumindest schon mal Kontakt aufzunehmen, um spätere Geschäfte besser anpeilen zu können. Einige WEF-Teilnehmer lassen sich kaum im Kongresshaus sehen, sondern halten in den Hotels ihre Geschäftstreffen ab. Letztes Jahr sagte mir ein Banker: «Davos ist toll, ich muss nicht rund um die Welt fliegen, um meine Top-Kunden zu besuchen. Das spart Geld und ist auch noch ökologisch sinnvoll.»
Das Interview führte Manuela Siegert.