Lena Kampf ist Recherche-Journalistin der Süddeutschen Zeitung und recherchierte längere Zeit rund um den wohl grössten Betrugsfall der Bundesrepublik Deutschland: den Wirecard-Skandal. Im Interview ordnet sie den laufenden Prozess gegen die mutmasslich Verantwortlichen des Skandals ein.
SRF News: Was ist so speziell am Wirecard-Prozess?
Lena Kampf: Es geht um 1.9 Milliarden Euro, die verschwunden sind oder nie existiert haben, je nach Lesart. Und es ist ein sehr langer Prozess – ein Mammutprozess.
Markus Braun, ehemaliger Geschäftsführer von Wirecard, ist einer der Hauptangeklagten. Er sieht sich als Opfer.
Gemäss Staatsanwaltschaft ist Markus Braun Kopf einer Betrügerbande. Die Verteidigung dagegen sagt, er habe davon nichts geahnt und sei das Opfer dieses Betrugs geworden. Die Verteidigung schreibt die Verantwortung dem früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek zu, der flüchtig ist. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass es die verschwundenen 1.9 Milliarden Euro nie gegeben habe. Die Verteidigung dagegen sagt, das Geld sei sehr wohl vorhanden gewesen und in die Taschen von Jan Marsalek und dessen Leuten geflossen – ohne das Wissen von Braun.
Braun versuchte, sich mit seinem schwarzen Rollkragenpullover als «Steve Jobs der Alpen» zu präsentieren.
Wie könnte man Markus Braun charakterisieren?
Er gilt als sehr smart. Nicht unbedingt ein brillanter Manager, sondern eher ein Nerd. Braun versuchte, sich mit seinem schwarzen Rollkragenpullover als «Steve Jobs der Alpen» zu präsentieren und auch als Held, der das Silicon-Valley-Artige, diesen raketenhaften Aufstieg von Wirecard orchestriert hat. Ob er nun Kopf der Bande war und diesen Betrug durchgeführt hat oder ob er sich hat täuschen lassen und von nichts eine Ahnung hatte, die Verteidigung behauptet: Es wirft so oder so kein gutes Licht auf seine Fähigkeiten als Geschäftsführer.
Politik, Wirtschaftsprüfer und Behörden: Alle scheinen bei der Kontrolle des Unternehmens versagt zu haben.
Man kann schon von einem kollektiven Versagen sprechen, da man sich jeweils auf den anderen zu verlassen schien. Zuallererst die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die elf Jahre lang die Bilanzen von Wirecard testiert und nicht beanstandet hatte. Darauf wiederum haben sich die Aufsichtsbehörden verlassen.
Man bekommt den Eindruck, dass alle glaubten, die anderen hätte ja schon überprüft. Man hatte in der Öffentlichkeit zunächst auch keinen Grund, die Erfolgsgeschichte von Wirecard anzuzweifeln.
Die Berichte der Financial Times fanden lange kein Gehör. Die Staatsanwaltschaft ermittelte sogar gegen deren Journalisten wegen mutmasslicher Nähe zu Shortsellern: Spekulanten, die auf sinkende Kurse wetten.
Ein ungeheuerlicher Vorgang! Journalisten wurden aufgrund ihrer Berichterstattung strafrechtlich verfolgt, diskreditiert und in die Nähe von Shortsellern gerückt. Und es zeigt nochmals, wie leicht es für Wirecard war, das Narrativ der ausländischen Spekulanten, die dem Unternehmen Böses wollten, bei der Staatsanwaltschaft, aber auch bei der Finanzaufsichtsbehörde BaFin zu hinterlegen.
Politisch hatte der Wirecard keine Konsequenzen.
Die BaFin untersteht ja dem Finanzministerium und damit dem damaligen Finanzminister Olaf Scholz, dem heutigen Bundeskanzler. Dieser sagte klar, die Bundesregierung treffe keine Verantwortung für den Skandal. Als Konsequenz gab es zwar Reformen bei der Finanzmarktaufsicht, und der damalige Bafin-Chef wurde entlassen. Die Politik schob die Verantwortung den Wirtschaftsprüfern von EY zu und will diese Unternehmen nun nochmals stärker überwachen.
Das Gespräch führte Harry Stitzel.