Dem öffentlichen Leben in Deutschland setzt eine Gewerkschaft zu, die gerade mal rund 30'000 Mitglieder hat, die Lokführergewerkschaft (GDL). Beim Grössenvergleich mit der Schweiz wäre das eine Gewerkschaft mit 3000 Mitgliedern. Eine kleine «Landgemeinde», die den landesweiten Zugverkehr zum Erliegen bringt und Versorgungsengpässe erzeugt.
In der Schweiz kaum denkbar. Aber für den Wirtschaftshistoriker Professor Christian Koller ist diese Stabilität keine Selbstverständlichkeit.
Auch Schweizer wissen wie's geht
In der Tat haben sich die Schweizer Arbeitnehmer in den letzten 60 Jahren zurückgehalten. Zumindest was Aktionen anbelangt von den Dimensionen, wie sie aktuell Deutschland in die Bredouille bringen. Das war nicht immer so. «Die Schweiz verfügt durchaus über eine lange und zeitweise intensive Streikgeschichte», erklärt Koller gegenüber SRF News Online.
Der Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs erinnert an den Landesstreik von 1918. An verschiedene lokale Generalstreiks in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts oder an die grosse Streikwelle in der zweiten Hälfte der 40er-Jahre. Aber auch die jüngste Geschichte war nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen.
So kam es auch in den letzten 40 Jahren ab und an zu grossen Streikaktionen. Allerdings erreichten diese in ihrer Wirkung nie die Dimensionen der aktuellen Streiks in Deutschland.
Koller erwähnt den legendären Frauenstreik von 1991 und den nationalen Streiktag im Baugewerbe von 2002. «In der Regel beschränken sich Streiks in der Schweiz heute aber auf einzelne Betriebe, wo etwas fundamental schief gelaufen ist», sagt Koller.
Tipp: Verhandeln wie Schweizer
Bekanntlich gibt's ohne Fleiss kein Preis. Der heutige relative Arbeitsfrieden in der Schweiz ist nach Ansicht Kollers ein Ergebnis jahrzehntelanger Lernprozesse. Damals, in der Zeit der intensiven Arbeitskämpfe im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Ausstände praktisch an der Tagesordnung.
Auch in anderen Ländern haben sich durchaus Mechanismen wie in der Schweiz entwickelt, führt Koller aus. Aber vielerorts gehört der Streik auch heute noch in fast ritueller Weise zu Vertragsverhandlungen mit der Wirtschaftsführung.
Der Wirtschaftshistoriker rät in solchen Fällen, besser nach Schweizer Manier auf Streiks zu verzichten und sich direkt an den Verhandlungstisch zu setzen beziehungsweise dort sitzen zu bleiben. Denn letztlich bleibt ja ohnehin nichts anderes übrig.
Weichgespülte Gewerkschaften
All das soll natürlich nicht heissen, dass Verhandlungsprozesse in der Schweiz funktionieren würden, gänzlich ohne dass Späne fallen.
So moniert Koller, dass die Gewerkschaften in den 50er- bis 80er-Jahren weitgehend vergessen hätten, dass «die glaubwürdige Androhung des Arbeitskampfes eine Voraussetzung für erfolgreiche Vertragsverhandlungen ist.» Hier sei in den letzten Jahren allerdings ein Wandel eingetreten.
Die dominierende Vorstellung vom absoluten Arbeitsfrieden hat sich verflüchtigt.
Und auch heute noch ist der Arbeitsfrieden in der Schweiz keine unumstössliche Selbstverständlichkeit. Laut Koller hat sich die bis vor etwa 30 Jahren dominierende Vorstellung vom absoluten Arbeitsfrieden um jeden Preis verflüchtigt. Verdunstet im Zuge eines Generationenwechsels in den Chefetagen, wie auch bei den Gewerkschaftsspitzen. Parallel dazu verdüstern sich die Grundvoraussetzungen für einen Arbeitsfrieden.
Das immer schnellere Aufgehen der Lohnschere seit den 80er-Jahren schwebt wie ein Damoklesschwert über der scheinbaren Idylle. Die Streiktätigkeit habe in der Schweiz denn auch in den letzten zwei Jahrzehnten wieder zugenommen, wenn auch nicht markant, weiss Koller.
Für den Wirtschaftshistoriker ist klar: «Die zukünftige Streikintensität wird neben der wirtschaftlichen Entwicklung stark davon abhängen, in welche Richtung sich das sozialpolitische Klima bewegt.» Tendenziell ist dieses Klima seit bald 20 Jahren daran, sich zu verschlechtern.