Auf der digitalen Autobahn des «Reichs der Mitte» herrscht nach westlicher Vorstellung stockender Verkehr: Staatliche Zensur stutzt jedem die Flügel, der sich all zu sehr exponiert; privates Unternehmertum zerschellt an der (vermeintlich) kommunistischen Doktrin; mit Argusaugen beobachten Staat und Medien die wenigen Superreichen, die ohne Parteibuch ans grosse Geld gekommen sind.
Doch weit gefehlt. Das Internet in China boomt, 800 Millionen Smartphones kursieren im fernöstlichen Grossreich. Das Konsumbedürfnis der wachsenden Mittelschicht will befriedigt werden: «Window Shopping» in den Einkaufsmeilen, gefolgt vom Bestellen der Waren im günstigeren Online-Versandhandel, ist zum Volkssport geworden.
Jack Ma kanalisiert Chinas Konsumrausch
Zunutze gemacht hat sich das ein Selfmade-Man nach bester amerikanischer Art, Ma Yun, alias Jack Ma. Ma hat sich inmitten des chinesischen Wirtschaftsbooms zum Alleinherrscher über Chinas Online-Versandhandel gemacht. Heute gehört Ma, 1964 in Hangzhou nahe Schanghai in einfache Verhältnisse hineingeboren, zu den reichsten Chinesen. Sein Online-Konglomerat «Alibaba» ist eine Art Basar für sämtliche Konsumbedürfnisse. Wer unter den 1,3 Milliarden Chinesen im Netz ein- und verkauft, tut es hier.
Das Kaufrausch-Eldorado «Tabao» etwa vereint die Produktvielfalt von Amazon, wie beim Auktionshaus Ebay können Anbieter aller Art hier ihre Produkte an den Mann bringen. Zu «Alibabas» Handelsplätzen gehören weitere Präsenzen, darunter «Tmall», ein sogenannter «Business-to-Costumer-Service», der chinesische und internationale Markenprodukte an Privatkunden vermittelt.
Spektakuläre Gewinn-Marge
Im Unterschied zum Grossteil der westlichen Konkurrenz finanziert sich «Alibaba» über Werbung und Gebühren – und das nicht zu knapp: Allein im 2. Quartal 2014 betrug der Gewinn des Unternehmens fast zwei Milliarden. Mehr als doppelt so viel wie etwa derjenige von Facebook (791 Mio.).
Nun geht «Alibaba» an die Wall Street, weil hier die finanzstarken und internetverliebten Investoren sitzen. Die Euphorie ist gewaltig, die Erwartungshaltung ebenso. Mit an Bord sind zahlreiche westliche Investoren und Grossaktionäre, darunter Yahoo, auch die Credit Suisse mischt beim Börsengang mit.
Visionär und Exzentriker
Gegründet wurde «Alibaba» 1999 als Mittlerinstanz für den Warenaustausch zwischen Ost und West, eine Art «Gelbe Seiten» für Chinas boomende Wirtschaft. Ma, der sich die englische Sprache als Fremdenführer autodidaktisch aneignete, erkannte früh das gewaltige Handelspotential zwischen den Hemisphären. Und die kulturellen und sprachlichen Gräben dazwischen. Diese schüttete er mit seinen benutzerfreundlichen Online-Präsenzen zu – hier liegt Mas eigentliches Verdienst.
Vergleiche zu Pionieren des digitalen Zeitalters wie Steve Jobs werden oft herangezogen – sind aber weit hergeholt. Ma ist kein begnadeter Programmierer, auch wenn er den autoritären Führungsstil mit dem verstorbenen Apple-Gründer gemein hat.
So leitet der exzentrische Chinese seine mittlerweile 22‘000 Angestellten mit unorthodoxen, zuweilen herrischen Führungsmethoden. Eigenhändig durchgeführte Massenhochzeiten unter heiratswilligen Untergebenen gehören zu den vielen kruden Episoden, die Ma umranken.
Ein Mann vereint Chinas Widersprüche
Vom Regime wird Ma für seinen aristokratischen Lebensstil beäugt, die Staatsmedien schiessen regelmässige Salven gegen den Emporkömmling. In seinem Unternehmen geniesst Ma einen Status irgendwo zwischen Guru und Erlöser.
In New York, der Lebensader des Kapitalismus, will er während des anstehenden Börsengangs seinen 50. Geburtstag begehen. Ein rauschendes Fest ist zu erwarten, sinnbildlich für die Widersprüche Chinas, das irgendwo zwischen real existierendem Kommunismus und Hurra-Kapitalismus schwebt.