Eine kreative Unordnung herrscht am Wikipedia-Sitz in San Francisco. Mitarbeitende diskutieren miteinander, Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Papiere stapeln sich, Notizen hängen an den Trennwänden zwischen den Arbeitsplätzen. Mittendrin: Sue Gardner, die 47-jährige Chefin.
Gardner hat schwarze, kurze Haare und lächelt verschmitzt. Hier im Silicon Valley kann man es nicht nachvollziehen, dass das Online-Lexikon auf Werbung und damit auf Millioneneinnahmen verzichtet: «Alle sagen: Wieso? Ich kriege mehrere E-Mails pro Woche von Beraterfirmen, die uns helfen wollen, mit Werbung Geld zu verdienen. Wir lachen darüber.»
Von normalen Menschen, für normale Menschen
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales entschied, dass das Online-Nachschlagewerk nicht gewinnorientiert sein soll. «Er hätte den anderen Weg gehen können. Ich lobe ihn für diesen Entscheid», sagt Gardner. «Das Resultat ist heute sichtbar: Wikipedia ist von normalen Menschen für normale Menschen geschrieben und von ihnen finanziert.»
Die Webseite lebt von den freiwilligen Spenden von rund zwei Millionen Menschen weltweit, die im Schnitt etwa 40 Franken geben. Wikipedia bleibt auf diese Weise von grossen Geldgebern unabhängig. Wikipedia ist neben Mozilla und BBC eine der wenigen vielbesuchten Webseiten weltweit, die nicht profitorientiert sind. Diese Entwicklung des Internets enttäuscht Gardner.
Heute werden alle Angaben kommerziell genutzt
«Vor zehn Jahren war das Internet chaotisch, voller Blogs, dem kostenlosen Webhoster Geocities. Die Leute publizierten», schwärmt sie. «Wir waren Produzenten, es herrschte eine Macherkultur.» Heute sei der Austausch auf dem Internet viel stärker vordefiniert und von kommerziellen Interessen durchdrungen.
Ich kriege Mails von Beratern, die uns helfen wollen, mit Werbung Geld zu verdienen. Wir lachen darüber.
Gardner beschreibt das Internet wie eine Stadt mit Läden und Unterhaltung. «Wir schreiben Empfehlungen auf Yelp oder klicken auf den Like-Knopf auf Facebook, und all das wird für Werbung genutzt.» Es brauche aber auch öffentliche Orte, Parks, wo Debatten geführt werden, wo die ursprüngliche Verheissung des Internets, die Demokratisierung des Wissens, möglich sei.
«Ich möchte mich im Internet über die besten Restaurants informieren, Schuhe kaufen und so weiter. Aber ich will dort auch lesen, lernen und über neue Ideen nachdenken», erklärt sie. Das sei eher möglich auf Foren ohne kommerziellen Hintergrund.
Reality-Shows machen die Welt nicht besser
Mit der Zeit würden die kommerziellen Kräfte aber jene des öffentlichen Interesses übertrumpfen. «Das Resultat ist zum Beispiel unser Fernsehen heute: Ein Haufen mieser Reality-TV-Shows, die Menschen ausnutzen und an die tiefsten Instinkte appellieren. Sie machen die Welt nicht besser», ist sie überzeugt. Das drohe auch dem Internet.
In den USA und in anderen Ländern wird darüber diskutiert, jenen, die bezahlen, schnelleren Internetzugang zu gewähren. Das wäre eine Katastrophe, warnt Gardner: «Das Prinzip der ‹Net neutrality›, des gleichen Zugangs für alle, ist fundamental für Webseiten wie Wikipedia. Noch wichtiger: Es ist die Voraussetzung dafür, dass sich verschiedene Ideen im Internet ausbreiten können – so wie wir es uns erhofft hatten.»
Versuche, Wikipedia-Einträge für PR zu nutzen
Doch auch Wikipedia ist nicht ganz gefeit vor kommerziellen Interessen. Letzten Herbst löschte die Webseite die Konten von 250 Autoren, weil sie PR-Beiträge im Auftrag von Firmen schrieben. Das sei eine ständige Herausforderung, sagt Gardner. «Es ist nachvollziehbar: Wenn eine halbe Milliarde Menschen Wikipedia lesen, so ist das ein riesiger Anreiz für Firmen, sich möglichst positiv darzustellen.»
Auf dem Online-Lexikon sind alle Änderungen, die an Artikeln gemacht werden, öffentlich einsehbar. Das und die Wachsamkeit der fast 80'000 freiwilligen Autoren helfe, sicher zu stellen, dass die Einträge objektiv bleiben, meint die Chefin optimistisch.
Gardner verlässt die Stiftung Wikimedia nach sieben Jahren an deren Spitze. Ihr nächster beruflicher Schritt ist noch offen. Sie will sich aber mit ihrer ganzen Energie dafür einsetzen, dass das Internet auch in Zukunft ein Tummelfeld für Ideen und Debatten bleibt, ein Garten der Inspiration, der allen offensteht.