Menschen sollten jünger in den Arbeitsmarkt, Absolventen sollten «arbeitsmarktfähiger» werden, die Bildungskosten sollten sinken. Unter anderem diese Ziele setzte sich die Schweiz, als sie 2001 begann, die Bologna-Reform in ihren Hochschulen einzuführen. Sie sind allesamt nicht erreicht.
1. Das Alter der Universitäts-Absolventen bewegt sich, wie eh und je, um die 27 Jahre. Auch an Fachhochschulen ist das Alter nur geringfügig gesunken: von 26,8 Jahre im Jahr 2001 auf 26,6 Jahre im Jahr 2015.
2. Absolventen von Universitäten werden von Konzernen nicht als praxisnah wahrgenommen, vor allem nicht die Bachelor-Absolventen. Eine Anfrage von «ECO» bei Swisscom, Roche, ABB und Zurich Versicherung zeigt: Erst die Praxiserfahrung macht Absolventen interessant (s. unten).
3. Die Bildungsausgaben pro Person in der Schweiz sind fast um die Hälfte gestiegen. In der Tertiärstufe fallen durchschnittlich 31‘000 Franken pro Kopf an.
«Kein Akademiker wollte die Bologna-Reform wirklich», sagt Antonio Loprieno. Er war bis 2015 Präsident der Schweizer Hochschulrektorenkonferenz. Die Schweizer Universitäten waren von Anfang an in Aufruhr, als sich der europäische Hochschulraum abzeichnete. Sie hielten fest, dass die Idee der Reform hierzulande «nicht akzeptabel» sei. Universitätsrektoren sollen gar versucht haben, den befugten Staatssekretär, Charles Kleiber, von der Unterzeichnung abzuhalten, wie er der «Zeit» berichtete.
In mehreren europäischen Ländern, darunter auch die Schweiz, gingen Studenten auf die Strasse und wehrten sich gegen «Bologna». In der Kritik stand vor allem die Absicht, die Hochschulen der Wirtschaft näherzubringen.
Bachelor, Master, ECTS
Heute gelten überall in Europa dieselben Abschlüsse. Studiengänge enden mit einem Bachelor- oder einem Master-Abschluss. Mit so genannten ECTS-Punkten sind Kurse miteinander vergleichbar geworden. Für Studenten erleichtert das die internationale Mobilität – und auch jene zwischen Universitäten im Inland und einzelnen Fächern.
Zumindest in der Theorie. In Wahrheit verhalten sich die heutigen Studenten an Schweizer Universitäten aber wie jene der Vor-Bologna-Ära. Sie schliessen in 9 von 10 Fällen einem Bachelor einen Master an. Sie verbleiben zu 75 Prozent an derselben Universität. Und zwei Drittel von ihnen macht in demselben Fach weiter.
Selbstkritik der Universitäten
Antonio Loprieno stand nicht nur der Schweizer Hochschulrektorenkonferenz vor, er war zudem zuständig, das Bachelor-System an der Universität Basel einzuführen. Dabei hatte er gerade dem US-amerikanischen Hochschulsystem den Rücken gekehrt, um sein Fach Ägyptologie wieder «richtig» zu betreiben, sagt er im Interview mit «ECO».
Rückblickend gesteht er ein, die Schweizer Universitäten hätten sich nur den Anstrich einer Veränderung gegeben: «Es bleibt eine systemische Unschönheit, dass wir eine Reform in formaler Hinsicht herbeigeführt haben, aber weniger in inhaltlicher Hinsicht.» Und: «Eine vollkommene Reform hätte impliziert, dass man auch an den Studieninhalten arbeitet, und das hat man nicht gemacht. Man hatte keine Zeit, und man hatte ehrlich gesagt auch keine Lust, denn wir sind mit den Inhalten, die wir hatten, auch einigermassen zufrieden gewesen.»
Antonio Loprieno veröffentlicht im Oktober ein Buch mit dem Titel «Die entzauberte Universität». Darin widmet er auch dem «Mythos Bologna» ein Kapitel.
Humboldtsches vs. angelsächsiches Modell
Damit spricht er den Kern des Problems an: Die Schweiz hat eine andere Hochschultradition als jene, die Bologna zugrunde liegt. Hier gilt das Humboldtsche Bildungssystem: Darin ist die Ausbildung eine Einheit, nicht unterbrochen, immer im selben Fach. Bologna dagegen ist vom angelsächsischen System geprägt. Darin haben Bachelor und Master unabhängig voneinander ihren Wert.
Antonio Loprieno erklärt den Unterschied an einem Beispielfach: «Im angelsächsischen Bereich ist das Studium Informatik auf Bachelor-Ebene in sich geschlossen. Und es ermöglicht das Studium auf Master-Ebene auch in anderen Disziplinen, in denen Informatik gebraucht wird. Man kann nach einem Informatikstudium in der Schweiz eigentlich nur Informatik weiterstudieren. Und in den USA kann man vielleicht Physik, Digital Humanities oder Chemie studieren.»
«Das wollte Bologna nicht»
Neue Form, alter Inhalt: Für Matthias Mölleney ist es höchste Zeit, dass die Schweiz beginnt, die Vorzüge des Bologna-Systems zu verstehen und umzusetzen. Der Leiter des Zentrums für Personalmanagement und Führung an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich sagt: «Was wir häufig bemerken: An der Universität wird der Bachelor-Abschluss gemacht, und dann wird den Studierenden geraten, sie sollen doch gleich anschliessend, wenn sie schon dabei sind, den Master-Abschluss machen. Und das ist eigentlich genau das, was Bologna nicht wollte, sondern zwischen dem Bachelor und dem Master sollte Praxiserfahrung gesammelt werden.»
Er sieht die Verantwortung aber auch bei seiner eigenen Zunft: «Wir Personalchefs müssen stärker noch darüber nachdenken – vielleicht gemeinsam mit den Unis – wie wir diesen Praxisteil einbauen können. Neuerdings sagt man Onboarding-Programme, um diese Praxis zu erlernen. Dann habe ich natürlich eine viel bessere Passung. Jemand mit einem universitären Abschluss plus Praxis, das wäre das Optimale.»
Er plant nun einen Arbeitskreis zwischen Hochschulvertretern und Personalverantwortlichen, denn: Es sei ja vor allem eine «Ungeübtheit in der Berührung», die es zu beseitigen gelte.