Allen Untergangszenarien zum Trotz hat sich die deutsche Wirtschaft in der Coronakrise gut behauptet, anders als Südeuropa. Einer der bekanntesten deutschen Ökonomen, Hans-Werner Sinn, hat die wirtschaftlichen Folgen der Krise analysiert.
SRF News: Überrascht es Sie, dass sich die deutsche Wirtschaft in der Coronakrise so gut behauptet hat?
Hans-Werner Sinn: Ja, man darf aber nicht übersehen: Diese Erholung führt nicht auf das alte Niveau. Es geht sehr schnell runter und sehr schnell wieder hoch. Doch dann ist man nicht auf dem alten Niveau, sondern man wird über die nächsten Monate und Jahre noch kämpfen, um wieder Anschluss an die alte Entwicklung zu finden. Die war ja auch nicht unproblematisch.
Rechnen Sie im Herbst nicht mit einer Welle von Firmenaufgaben?
Ja, das Insolvenzrecht wurde suspendiert, und man hat dies verlängert, um zu verhindern, dass Firmen reihenweise in Konkurs gehen. Aber richtig saniert sind viele Firmen nicht. Wir schleppen viele mit, die es auf die Dauer nicht schaffen werden. In der Tat werden die Konkurszahlen hochgehen.
Was sagen Sie zur Entwicklung in Ostdeutschland im Verhältnis zu Westdeutschland?
Ostdeutschland ist ja im Wesentlichen eine Staatswirtschaft, die durch Transfers aus dem Westen aufrechterhalten wird. Ostdeutschland ist von daher nicht so stark betroffen wie der Westen. Ausserdem hat sich die Epidemie selber im Osten nicht so niedergeschlagen.
Wenn Sie Deutschland als Gesamtes eine Note geben müssten, wie es durch diese Krise gekommen ist, von eins für katastrophal bis zehn für hervorragend. Welche Note würden Sie vergeben?
Sieben bis acht. Hervorragend würde ich nicht sagen, da gibt es bessere Beispiele. Denken Sie mal an Korea oder Japan, wo die Fallzahlen relativ zur Grösse der Bevölkerung bei einem Zwölftes des deutschen Werts liegen.
Sie sagen, Deutschland sei ganz gut durch die Krise gekommen. Wie steht es um die Europäische Union?
Gerade die Mittelmeerländer, die sowieso gebeutelt waren und die Wettbewerbsprobleme haben, kommen schwer mit dieser Krise zurecht, zum Beispiel Spanien und Italien.
In den letzten zehn Jahren vor Corona war bereits ein Fünftel der italienischen Industrie untergegangen.
Kurz vor dem Corona-Einbruch hatten sie bereits einen Rückgang der Industrieproduktion um 20 Prozent gegenüber dem Vorkrisenniveau vom Herbst 2007, bevor die Lehman-Krise ausbrach. Von dieser Krise haben sich die Länder Südeuropas ja nie wirklich erholt. Nun sind sie bei 30, 32 oder 33 Prozent minus gegenüber damals. Das sind verheerende Verhältnisse.
In Spanien sieht es nicht besser aus, sondern im Gegenteil, noch schlechter.
In den letzten zehn Jahren vor Corona war bereits ein Fünftel der italienischen Industrie untergegangen. Die Zahl der Firmen hat sich diesen Fünftel netto verringert. Und in Spanien sieht es nicht besser aus, sondern im Gegenteil, noch schlechter.
Es gab diese riesigen Hilfsprogramme: Kredite, Bürgschaften, Unterstützung. Wie wird dies Deutschland und Europa noch einholen?
Das ist etwas, was mir wirklich Sorgen macht. Ich bin nicht grundsätzlich gegen die Rettungsaktionen. Ich glaube, sie waren richtig. Aber wenn man sich genau anschaut, wie das gemacht wurde, dieses viele Geld, das jetzt gedruckt wird, das macht mir Sorgen. Wir hatten vor der Lehman-Krise im Sommer des Jahres 2008 eine Zentralbank-Geldmenge im Euroraum von 900 Milliarden Euro.
Obwohl die europäische Wirtschaft jetzt kaum grösser ist als 2008, haben wir eine über fünfmal so grosse Zentralbank-Geldmenge.
Mit den Beschlüssen, die nun getroffen wurden und die in Kürze realisiert werden, gehen wir gegen fünf Billionen und über fünf Billionen Euro hinaus. Obwohl die europäische Wirtschaft jetzt kaum grösser ist als 2008, haben wir eine über fünfmal so grosse Zentralbank-Geldmenge.
Vier von fünf Billionen sind eigentlich ein unnützer Geldüberhang. Er kann irgendwann zu einem Problem werden, potenziell kann er auch zu einer Inflation führen. Ich finde diese Entwicklung in Richtung Gemeinschaftskasse problematisch.
Wenn es nun gemeinschaftliche Schulden gibt, ist doch die logische Folge, dass es einen europäischen Bundesstaat geben muss, weil es sonst gar nicht funktioniert?
Wenn diese Massnahmen tatsächlich die Vereinigten Staaten von Europa nach Schweizer Vorbild brächten, hätte ich nichts dagegen. Aber dies ist nur eine Fiskalunion. Man vergemeinschaftet die Geldbörse. Die politische Union ist noch etwas ganz anderes. Da braucht es eine starke Regierung, die die Aussenpolitik macht, die die Verteidigungspolitik macht. Man kann keine nationalen Heere mehr haben.
Ein französischer Präsident nach dem anderen hat gesagt: ‹Die französische Atommacht gehört den Franzosen und schützt nur die Franzosen. Punkt.›
Die Streitkräfte müssten zusammengelegt werden, und das wird nicht passieren, weil Frankreich strikt dagegen ist. Das hat ein französischer Präsident nach dem anderen gesagt: Die französische Atommacht gehört den Franzosen und schützt nur die Franzosen. Punkt.
Der einzige Weg, wie man eine politische Union in Europa hätte erreichen können, wäre gewesen, wenn man so verhandelt hätte: Ihr kriegt Gemeinschaftsgeld, das im Wesentlichen von Deutschland kommt und in die Mittelmeerländer fliesst. Daran ist Frankreich sehr interessiert, weil es das ökonomische Hinterland von Frankreich ist. Und Frankreich würde zustimmen, seine Streitkräfte zu vergemeinschaften.
So hätte man vielleicht eine politische Union kriegen können. Aber wenn man das Geld vorher auf den Tisch legt, wie wir das nun tun, kommt der zweite Schritt nie mehr. Der Weg in die politische Union ist jetzt blockiert.
War es also quasi ein vergiftetes Geschenk von Angela Merkel?
Das ist nicht das Geschenk von Angela Merkel, sondern das ist die Forderung von Emmanuel Macron. Der hat das durchgesetzt.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.