Eine solche Besetzung hat man in der Schweiz selten gesehen: Vor 50 Jahren, am 1. April 1975, hätten eigentlich die Bauarbeiten für das Atomkraftwerk Kaiseraugst weitergehen sollen.
Doch rund ein Dutzend Aktivistinnen und Aktivisten versperrten die Zufahrt und blockierten die Baumaschinen.
Peter Scholer war damals 28 Jahre alt und Gründer der «Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst (GAK)». Die Gruppe wurde 1973 von Jungsozialistinnen, Umweltschützern und Friedensaktivistinnen ins Leben gerufen.
15'000 Leute schliessen sich an
«Wir dachten, dass die Polizei bald kommen und das Areal räumen wird», erzählt Scholer. Doch so weit kam es nicht. Als keine Polizei erschien, riefen die Besetzer die Bevölkerung zur Unterstützung auf.
So sah es an der Besetzung von Kaiseraugst aus
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Bild 1 von 5. Mehr als 15000 Menschen versammelten sich am 6. April 1975 zu einer Demonstration auf dem Bauplatz des Atomkraftwerks Kaiseraugst. Bildquelle: Photopress-Archiv/STR.
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Bild 2 von 5. Die Notwendigkeit und Sicherheit der Kernenergie wurden erstmals von einer breiten Öffentlichkeit infrage gestellt. Bildquelle: Photopress-Archiv/STR.
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Bild 3 von 5. «Die Szene erinnerte teilweise an Woodstock», erzählt Peter Scholer, der selbst bei der Besetzung dabei war. Bildquelle: Photopress-Archiv/STR.
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Bild 4 von 5. Ein Vater mit seinen Kindern auf dem besetzten Baugelände des geplanten AKW Kaiseraugst. Bildquelle: Keystone/STR.
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Bild 5 von 5. Anfangs dachten die Besetzerinnen und Besetzer, dass sie bald von der Polizei vertrieben werden. Schlussendlich blieben sie elf Wochen auf dem Gelände. Bildquelle: Photopress-Archiv/STR.
Am 6. April versammelten sich mehr als 15'000 Menschen aus allen Gesellschaftsschichten auf dem Areal. Darunter waren Familien, Arbeiter, Akademikerinnen, Gewerkschafter, Umweltschützerinnen und sogar ehemalige Militärangehörige, die gemeinsam gegen die Gefahr der Atomkraft protestierten. «Dann war klar: Wir bleiben», sagt Scholer.
Überforderung bei der Polizei
Dass die Polizei nicht eingriff, ist bis heute unverständlich für Ulrich Fischer. Er war damals Direktor der Atomkraftwerk Kaiseraugst AG. Er fuhr mit seinem Auto auf das Areal und stellte die Besetzer zur Rede. Doch sie wollten nicht kooperieren. «Sie lachten mich aus», erinnert er sich.
Also wandte er sich an die Aargauer Kantonspolizei. Doch dort war man überfordert, erzählt Fischer. Der Polizeikommandant erklärte, dass nur 280 Polizisten im Einsatz waren und keine Erfahrung mit solchen Demonstrationen hatten.
Fischer waren als Direktor die Hände gebunden: «Ich konnte selbst nichts mehr dazu beitragen.»
Kleines Woodstock in Kaiseraugst
Elf Wochen lang besetzen die Demonstrierenden das Gelände. Sie bauten Zelte, Wohnwagen und Hütten, es gab Info- und Verpflegungsstände. Scholer beschreibt die Szenerie als «kleines Woodstock».
Als der Bundesrat das Militär nach Kaiseraugst schicken wollte, wehrte sich SP-Bundesrat Willi Ritschard und drohte mit seinem Rücktritt, sollten Soldaten das Areal räumen. «Ritschard war klar, dass das nicht einfach eine linke Gruppe ist, sondern die Bevölkerung. Und auf die muss man hören», sagt Scholer.
Verhandlungen mit dem Bundesrat
Scholer wurde zu Verhandlungen mit dem Bundesrat eingeladen. Willi Ritschard empfing ihn zusammen mit weiteren Mitgliedern der GAK.
Nach intensiven Verhandlungen einigten sie sich auf einen vorläufigen Baustopp des AKWs und auf den Verzicht auf einen Zaun, der weitere Besetzungen erschwert hätte. Im Gegenzug musste die GAK die Besetzung beenden.
Das Hauptziel der Demonstranten – der Stopp des AKW-Baus – wurde jedoch erst zehn Jahre später erreicht.
Und dann kam Tschernobyl
Der Bau verzögerte sich über die Jahre hinweg, was zu einem Verfall der ursprünglichen Planungen führte. Die Pläne zu modernisieren, wäre mit erheblichen Zusatzkosten verbunden gewesen. Das Projekt schien immer weniger rentabel.
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 wurde klar, dass der Bau des AKWs nicht mehr möglich war.
So entschied die Schweizer Regierung, das AKW Kaiseraugst zu beerdigen. Der Bund entschädigte die gescheiterte Ausführung des Projekts mit 350 Millionen Franken.