Erneut muss das Bergdorf Brienz GR geräumt werden. Sämtliche Bewohner und Bewohnerinnen müssen das Dorf bis am Sonntagmittag, 17. November, um 13 Uhr verlassen haben. Christian Gartmann, Mitglied des Krisenstabs der Gemeinde Albula, spricht über die Herausforderungen der Evakuierung.
SRF: Was sind die grössten Herausforderungen bei der Evakuierung?
Christian Gartmann: Die Menschen von Brienz sind stark und kennen die Evakuierungsmassnahmen bereits, weil sie letztes Jahr schon einmal ihr Zuhause verlassen mussten. Diesmal ist die Lage jedoch angespannter. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, und das führt zu grosser Unsicherheit. Wir vom Krisenstab versuchen, so viele Antworten wie möglich zu geben – aber oft fehlen uns selbst Antworten.
Was macht die Situation für die Bewohner so belastend?
Es ist der Gedanke, das Zuhause wieder verlassen zu müssen – und diesmal auf unbestimmte Zeit.
Wenn die Natur uns zwingt, alles zurückzulassen, ist das eine schwere emotionale Belastung.
Die Menschen fühlen sich ausgeliefert und fremdbestimmt. Wenn die Natur uns zwingt, alles zurückzulassen, ist das eine schwere emotionale Belastung.
Wie unterstützt der Krisenstab die Menschen in dieser Situation konkret?
Unser Team bietet regelmässige Informationsveranstaltungen an, bei denen die Bewohner Fragen stellen können und wir Updates zur Situation geben. Es gibt auch eine Hotline, über die die Leute uns jederzeit erreichen können. Zudem arbeitet der Krisenstab eng mit dem Kanton und sozialen Diensten zusammen, um den Menschen so gut wie möglich durch diesen Ausnahmezustand zu helfen.
Wie sieht die finanzielle Unterstützung für die Betroffenen aus?
Der Kanton bietet Soforthilfen an und deckt Evakuierungskosten. Doch viele fragen sich, was passiert, wenn sie länger nicht zurückkehren können. Besonders für Landwirte, die ihr Vieh umsiedeln müssen, ist das eine Herausforderung. Ein Bauernhof kann nicht einfach stillgelegt werden und Tiere benötigen kontinuierliche Versorgung.
Glauben Sie, dass die Evakuierten bald zurückkehren können?
Die Hoffnung besteht, dass sich die Berglage stabilisiert, aber das kann Monate dauern. Viele haben sich darauf eingestellt, für längere Zeit abwesend zu sein.
Wie sehen Sie die langfristige Zukunft des Dorfes Brienz, falls die Bergsturzgefahr weiterhin bestehen bleibt?
Das ist eine Frage, die wir uns im Krisenstab und im Dorf stellen. Brienz ist klein, und viele Bewohner sind hier verwurzelt. Langfristig müssen wir als Gesellschaft überlegen, ob und wie sicherer Wohnraum in gefährdeten Gebieten möglich ist. Für die Familien ist das ein harter Gedanke, weil sie ihr Zuhause und ihre Wurzeln nicht aufgeben wollen.
Wie gehen die Menschen mit dieser Ungewissheit um?
Es gibt Phasen, in denen die Leute ihre Frustration ausdrücken – das ist verständlich und gehört zum Prozess. Wir als Krisenstab versuchen, diese Emotionen aufzufangen und anzusprechen. Ein grosser Teil unserer Arbeit ist daher, psychologische Unterstützung bereitzustellen. Wir wissen, dass es für die Betroffenen wichtig ist, sich gehört zu fühlen und klare Informationen zu erhalten.
Es wird deutlich, dass wir in der Schweiz auf solche Naturgefahren besser vorbereitet sein müssen.
Was können die Behörden oder die Gesellschaft insgesamt aus dieser Situation lernen?
Es wird deutlich, dass wir in der Schweiz auf solche Naturgefahren besser vorbereitet sein müssen. Der Klimawandel macht solche Ereignisse häufiger und intensiver. Diese Erfahrung lehrt uns, dass wir schneller und koordinierter reagieren müssen, wenn Menschenleben und Existenzen auf dem Spiel stehen.
Das Gespräch führte Sandra Schiess.