Es sind zahllose norwegische Titel, die dieses Jahr als deutsche Übersetzung erscheinen. Wäre das Wort nicht so schrecklich, man könnte von einem regelrechten Bombardement an norwegischen Büchern sprechen, welches der deutschsprachige Literaturmarkt derzeit erlebt.
Hunderte von Titeln
Bis zur Frankfurter Buchmesse (16. bis 20. Oktober) erscheinen rund 400 Titel. Keiner der grossen und auch bei uns populären Namen fehlt auf der langen Liste: Karl-Ove Knausgård, Jostein Gaarder, Jon Fosse, Linn Ullman, Tomas Espedal, Erik Fosnes Hansen, Roy Jacobsen, Maja Lunde, Jo Nesbø. Sie alle werden in Frankfurt auftreten – und ziemlich sicher das Publikum erreichen.
Der Boom der norwegischen Literatur, der bei uns Anfang der 1990er Jahre mit Jostein Gaarders Bestseller «Sofies Welt» einsetzte, kommt nicht von ungefähr. Da ist zunächst einmal die Natur, die in der norwegischen Literatur oft eine zentrale Rolle einnimmt. Norwegen ist mit seinen nicht einmal 5.5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern nur dünn besiedelt. Die Beschreibung der unberührten Landschaft bedient bei Leserinnen und Lesern eine verbreitete Sehnsucht nach Ursprünglichkeit.
Nah am Menschen
Was den Erfolg auch begünstigt: Literatur aus Norwegen ist selten verkopft. Die Geschichten sind an anschaulichen Figuren erzählt. Die Psychologie wird durchdrungen. Dies stimmt für Hauptkommissar Harry Hole von Krimibestsellerautor Jo Nesbø ebenso, wie für die wortkargen Figuren Jon Fosses oder für Karl-Ove Knausgårds epische und narzisstische Selbstbetrachtung in seiner sechsbändigen und rund um den Globus als Literatursensation gefeierten Autobiographie.
Fast immer geht es in den Erfolgsromanen aus Norwegen zudem darum, die Wahrheit zu enthüllen. Wie können wir noch leben, wenn wir unseren Planeten zerstören? Diese Frage stellt etwa Maja Lunde in ihren Werken, in denen sie die Bedingungen des Mensch-Seins nach dem Klimawandel ergründet.
In der norwegischen Literatur geht es fast immer um das Grundsätzliche. Und dieses literarische Konzept entwickelt auf Leserinnen und Leser einen Sog, aus dem es kein Entrinnen gibt. Vorausgesetzt das Werk überzeugt auch sprachlich und formal.
Diese stoffliche Tiefe kann zur irrigen Meinung verleiten, Literatur aus Norwegen sei generell wortkarg und düster. Wie andere Literaturen spielt auch die norwegische auf der ganzen Klaviatur der Emotionen. Neben Mord und Düsternis haben auch Humor, Witz und ironische Brechung ihren festen Platz.
Literaturland Norwegen
Der Erfolg der norwegischen Literatur hängt nicht zuletzt auch mit den Bedingungen im Herkunftsland zusammen: Sie lassen erfolgreiche Literatur in so grosser Zahl überhaupt erst entstehen.
Dazu gehört zuerst einmal, dass man in Norwegen überdurchschnittlich viel liest. Dies mag mit den langen Abenden zu tun haben im Winterhalbjahr. Eine Tasse Tee und ein gutes Buch dazu gehören zu den beliebten Mitteln, die dunkle Jahreszeit zu überstehen. Und gerade Literatur, die in abgründige Welten entführt, bietet einen willkommenen Ausgleich für das dank dem Verkauf von Erdöl in der Regel materiell sorglose norwegische Volk.
Staatliche Literaturförderung
Hinzu kommt, dass der Staat massiv in den Literaturbetrieb investiert. Das Land hat sich per Gesetz ein hervorragendes Bibliothekssystem verordnet. Es stellt sicher, dass die Menschen auch in entlegenen Gebieten zu Neuerscheinungen Zugang haben.
Eine staatliche Behörde wählt zudem jährlich etwa 600 Neuerscheinungen aus, kauft je einige hundert Exemplare auf und teilt sie den öffentlichen Bibliotheken im gesamten Land zu. Durch diese Förderung gelangen auch unbekannte Schreibende zu einem Einkommen. Dieses ermöglicht es ihnen, weiterzuschreiben und sich zu entwickeln. Um vielleicht irgendwann den grossen Wurf zu landen. Und dann an der grössten Buchmesse der Welt in Frankfurt mit dabei zu sein.