Sieglinde Geisel, wie erklären Sie sich den Suchtfaktor von Knausgårds Literatur?
Suchtmittel nennt man auch Betäubungsmittel. Ich habe das Gefühl, dass seine Literatur ein bisschen betäuben kann. Sie macht nicht wach, sondern bestätigt nur das, was schon ist. Ein Zustand, den man nicht verlassen will, stellt auch eine Sucht dar. Ich erkläre mir das Ganze dadurch, dass die Literatur dem Leser keinen Widerstand entgegenhält. Sie ist süffig, wie ein guter Wein, bei dem man nicht merkt, wann genug ist. Es stellt sich wie bei jedem Betäubungsmittel allerdings die Frage, ob es eine Bewusstseinsveränderung bewirkt.
Was hat Knausgård bei Ihnen ausgelöst?
Zu Beginn plätschert seine Erzählung so dahin und mit der Zeit hat sie mich angefangen zu ärgern. Ich wollte gerne vorspulen, bis endlich etwas Spannendes vorkommt. Irgendwann ist dann das eingetreten, was man Langeweile nennt – und dies bis zum Überdruss. Er schreibt in seinem Buch, das Leben zerrinne ihm zwischen den Fingern – dieses Gefühl hatte ich beim Lesen.
Viele meinen, das Lesen seiner Bücher verändere das Leben. Können Sie das nachvollziehen?
Ich kann gut verstehen, dass die Menschen seine Literatur so betrachten. Es ist aber das Gleiche wie wenn ich mit meinen Freunden über mein und ihr Leben spreche, was sehr schön ist und meinen Blick auf mich selbst verändert. Dies ist aber nicht Kunst, nicht Literatur, das ist eine Alltagssache. Wenn ich die Wahl habe zwischen Knausgårds Leben und dem Leben meiner Freunde, dann gehe ich lieber mit meinen Freunden Kaffee trinken.
Sie sind somit immun gegen das Knausgård-Virus?
Wenn es überhaupt ein Virus ist und nicht ein Betäubungsmittel. Mich persönlich hat das Buch ganz und gar nicht erreicht. Wenn ich lese, bin ich gespannt auf die Formulierungen, die ich selber nicht zustande brächte. Das Buch sollte so geschrieben sein, dass ich es kurz beiseite lege und über die Aussage nachdenken muss. Einen solchen Effekt erlebte ich keine Sekunde bei Knausgård. Alles wurde so gesagt, wie ich es auch sagen würde.
Die meisten Literaturkritiker sind jedoch begeistert von seinen Büchern, wie erklären Sie sich diese Begeisterung?
Ich finde es seltsam, wenn Literaturkritiker nicht unterscheiden können, welche Literatur uns erschüttern und verändern kann, und welche die Funktion des Tröstens, vielleicht sogar des Betäubens übernimmt. Ich habe das Gefühl, man hat Angst seine eigene Meinung zu vertreten. Das geht so weit, dass einer der berühmtesten Literaturkritiker – James Wood – im «New Yorker» sagte «Die Banalität ist so extrem, dass es schon wieder grossartig ist.» Ich habe das Gefühl, er erkennt, dass die Bücher furchtbar banal, öde und langweilig sind. Er wagt aber nicht zu sagen, dieses Ding sei einfach nur langweilig. Er fühlt sich verpflichtet, das Buch zu adeln, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Ich weiss keine andere Erklärung, mir ist es ein Rätsel.