Lukas Bärfuss brilliert auf dem weissen Blatt, wo er mit seinen Worten Sätze veredelt. Der x-fach ausgezeichneter Schriftsteller und Theaterautor ist auch Vater von drei Kindern. Zum Frühstück isst er «Haferflöckli», die er mit heissem Wasser übergiesst und mit Nüssen anreichert.
Der 52-Jährige ist Frühaufsteher und meint: «Es ist gut, wenn man aus den Träumen heraus an den Schreibtisch kann.» Seine Zeit aufzustehen, ist fünf Uhr. So erfolgreich und geordnet war sein Leben nicht immer.
Ich hatte immer das Gefühl, ich müsse doppelt oder dreifach so gut sein wie alle anderen.
Lukas Bärfuss war vier, als sich seine Mutter vom Vater scheiden liess. Sie war sich seiner kriminellen Karriere überdrüssig und schlug den Weg als alleinerziehende Mutter ein. Die familiäre Herkunft hat Bärfuss geprägt. «Ich hatte immer das Gefühl, ich müsse doppelt oder dreifach so gut sein wie alle anderen.»
Als Lukas Bärfuss als Achtjähriger mit dem Hund Gassi ging, kam er mit einem fünfundzwandzigbändigen Lexikon nach Hause. Es war die Hinterlassenschaft eines Mannes, der gestorben war. Die Männer, welche die Wohnung räumten, fanden in Lukas Bärfuss, der zufällig vorbeilief, einen dankbaren Abnehmer.
Die Schulzeit war für mich eine Qual.
Die Lexika waren Rettung und Verhängnis zugleich, sagt Bärfuss. Er habe die Macht von Büchern entdeckt. In der Schule wusste er schon alles und er habe sich fürchterlich gelangweilt. «Die Schulzeit war für mich eine Qual.» Und was danach folgte – die Obdachlosigkeit – bezeichnet Lukas Bärfuss als Freiheit.
Obdachloser Teenager
Auch wenn Lukas Bärfuss das Wort «obdachlos» nicht mag, als Fünfzehnjähriger landete er auf der Strasse. Obdach hätte er schon gehabt, häufig jeden Abend ein anderes und jedes war prekär. Er genoss die Freiheit, auch wenn es eine gefährliche war.
Ich bekam sechs gebügelte Hemden, die ich in einem Schliessfach deponierte.
Das Wichtigste war für ihn, bei den Sozialbehörden nicht aufzufallen. Nur, wie hat er das geschafft?
Mit Freundlichkeit und einem sauberen Hemd. Das sei bis heute so. Die sauberen Hemden holte Lukas Bärfuss regelmässig bei seiner Mutter ab, die in einer Glätterei arbeitete. «Ich bekam sechs gebügelte Hemden, die ich in einem Schliessfach deponierte.»
Was ihm fehlte auf der Strasse, waren Bücher. Deshalb stillte er seinen Lesehunger in der Stadtbibliothek Thun. Dort war es warm, trocken, es gab Lesestoff und keine Polizei.
Alles, was man macht, soll man mit der grösstmöglichen Sorgfalt und Anstrengung machen.
Der Vielleser Bärfuss sagt: «Ich habe festgestellt, wie wenig man lesen muss, dass man mehr gelesen hat als fast alle.» Aber er weiss auch, dass er nur eine gewisse Anzahl Seiten lesen kann, weil das Leben endlich ist. «Alles, was man macht, soll man mit der grösstmöglichen Sorgfalt und Anstrengung machen».
Immer den grösstmöglichen Fokus zu haben, mache ihn glücklich. Mit dieser Lebensweisheit verliert auch das Streberhafte, zu dem er sich bekennt, seine negative Note.
Obdachlos und sozial behindert
Was aus Freundlichkeit entstehe, seien Freundschaften, sagt Lukas Bärfuss. Etwas, das seine Mutter nie begriffen habe. Sie habe immer versucht, zu konkurrenzieren, um am Wettbewerb unserer Gesellschaft teilzunehmen. «Ich war sozial behindert und konnte nicht konkurrenzieren mit anderen Leuten.» Ohne Ausbildung musste er sich mit anderen zusammentun. Dabei habe er sich gefragt: «Wer tut mir gut und wem gehe ich besser aus dem Weg.»
Wenn man auf der Strasse ist, würden all jene fehlen, die ein geregeltes Leben haben. Was bleibe, seien porösen Existenzen und darunter müsse man die Richtigen finden. Was wirklich zählt im Leben und was wirklich Sicherheit gibt, sei nicht Geld, sondern lebendige Beziehungen zu anderen Menschen, so Bärfuss.