Heute existieren weltweit zwischen 6000 und 7000 Sprachen oder Dialekte. Die meisten von ihnen werden aber in 100 Jahren ausgestorben sein, so eine deprimierenden Prognose der Unesco. Hat da unser Schweizerdeutsch noch eine Chance?
Sprachen sind keine Lebewesen
Wir sind uns gewohnt, Sprachen als Lebewesen zu betrachten, die gedeihen und absterben können. Dabei sind sie nüchtern betrachtet einfach Kommunikationswerkzeuge, mit denen wir den Alltag bewältigen. Deshalb spiegeln sie präzise die aktuelle Lebensrealität und passen sich dieser stets an. Insofern können Sprachen oder Dialekte nicht sterben. Sie wandeln sich oder sie kommen ausser Gebrauch.
Englische Ausdrücke, eigenartige Pluralformen oder Germanismen: Der schöne Schweizer Dialekt geht bachab. Wie schlimm steht es um unsere Sprache? Nadia Zollinger ist besorgt, doch SRF-Dialektforscher Markus Gasser sieht die ganze Sache lockerer.
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Der Todestag einer Sprache
Das ist natürlich spitzfindig. Denn tatsächlich verschwindet alle vierzehn Tage eine Sprache auf der Welt, ob man das nun «sterben» nennt oder «verwandeln». Manchmal kennt man sogar das Todesdatum: Am 7. Oktober 1992 starb Tevfik Esenç. Auf seinem Grabstein steht: «Er war der letzte Mensch, der die Sprache beherrschte, die man Ubychisch nennt». Ubychisch war eine kaukasische Sprache, die ursprünglich an der östlichen Schwarzmeerküste beheimatet war.
Jiddisch aus dem Surbtal ist verklungen
Aber so weit weg müssen wir gar nicht suchen. In den 1980er Jahren starben die letzten Menschen, die «echtes» Surbtaler Jiddisch sprachen. Juden durften sich in der Eidgenossenschaft jahrhundertelang nur in den beiden Aargauer Gemeinden Lengnau und Endingen niederlassen. Dort bildete sich eine grosse jüdische Gemeinde mit einem eigenen Dialekt.
Surbtaler Jiddisch gehörte zum Westjiddischen und war eine Mischung aus Hebräisch und dem Frühneuhochdeutsch der Gegend. Als die Niederlassungsbeschränkung für Juden im späten 19. Jahrhundert aufgehoben wurde, löste sich die jüdische Gemeinde im Surbtal allmählich auf. Und mit ihr auch die eigene Sprache.
Mattenenglisch ist heute Folklore
Ein anderes Beispiel für einen «verstorbenen» Dialekt ist Mattenenglisch, die Geheimsprache des Berner Mattequartiers. Clubs und Vereine pflegen es zwar liebevoll wie ein Brauchtum. Aber als Alltagssprache, mit der man sich von den Bernburgern der Oberstadt abgrenzt, hat es seine Funktion längst verloren.
Hochsprachen ersetzen Dialekte
Lang ist die Liste der «todgeweihten» Dialekte, allein im deutschen Sprachraum: Vom Saterfriesischen im Norden über das Elsässische bis zum Gurinertitsch, dem Walserdialekt von Bosco Gurin im Tessin. Alle diese Dialekte werden in einem langsamen Prozess von einer dominanten Umgebungssprache abgelöst: In Norddeutschland vom Standarddeutschen, im Elsass vom Französischen, in Bosco Gurin vom Italienischen.
Vom Sprachwechsel bis zum Sprachtod
Häufig «stirbt» eine Sprache oder ein Dialekt in drei Phasen. Zuerst beginnen die Sprecherinnen und Sprecher, die dominante Sprache der Muttersprache vorzuziehen. Nach diesem Sprachwechsel folgt der Sprachzerfall, wenn die Eltern ihren Kindern die einstige Muttersprache nicht mehr richtig weitergeben können. Schliesslich bleiben von der Muttersprache höchstens noch einzelne Wörter oder regionale Lautmerkmale übrig. Danach gilt die Sprache als tot.
Schweizerdeutsch stirbt nicht!
Einzelne isolierte Kleindialekte mögen in der Schweiz verschwinden. Das Schweizerdeutsche an sich verschwindet aber nicht unter irgendeiner dominanten Sprache. Trotz aller Anglizismen und Germanismen reden wir unbestritten weiterhin Mundart. Und weil wir unsere Mundarten im täglichen Gebrauch den wandelnden Bedürfnissen flexibel anpassen, bleiben sie gewissermassen ewig jung. Zwar weiss niemand, wie wir in 100 Jahren sprechen. Aber es wird wohl immer noch eine regionaltypische mündliche Alltagssprache sein.