(Nicht alle Browser unterstützen diese Funktion: siehe Infobox unten)
Maik Maurer starrt gebannt auf sein Smartphone. Auf dem Bildschirm blinken in kurzen Abständen die schwarzen Worte auf. Der 38-jährige Ingenieur aus München liest gerade eine seiner Mails – mit Spritz natürlich. Maurer ist Mitbegründer des amerikanischen Start-up. Im Moment bricht er zusammen mit Frau und Kindern seine Zelte in Deutschland ab. Es zieht ihn nach Boston, dem Hauptsitz der Firma.
Seine Lese-App hat in den vergangenen Monaten einen gewaltigen Medien-Hype erfahren. «Bald lesen Sie die gesamten 309 Seiten von ‹Harry Potter und der Stein der Weisen› in weniger als 77 Minuten», verkündete die Huffington Post. «Texte auf Speed» titelte die «Süddeutsche Zeitung».
Spritz ist der jüngste Spross dieser Art des schnellen Lesens. Unter anderem Velocity oder auch ReadQuick bauen auf das gleiche Prinzip.
Was bei Spritz neu ist, ist der sogenannte ORP, der Optimal Recognition Point, zu deutsch: Optimaler Erfassungspunkt. Dabei wird das Wort so ausgerichtet, dass es das Auge noch schneller erfassen kann als bei den bisherigen Methoden – ein rot markierter Buchstabe pro Wort hilft dabei (siehe Grafik). Maurer und seine beiden Geschäftskollegen haben ihre Idee zum Patent angemeldet.
Keine Augenbewegungen – mehr Tempo
Im Gegensatz zum konventionellen Lesen fallen bei dieser Lesemethode die Augenbewegungen über die Zeilen weg. Das spart Zeit. Ausserdem ist aus der Forschung bekannt, dass wir beim Lesen länger auf den einzelnen Worten verweilen als nötig, um es zu verarbeiten. Auch dieser Zeitfresser fällt weg.
In Zahlen heisst das: Einen gewöhnlichen Text in einem Buch oder am Computer lesen wir mit rund 220 Wörtern pro Minute. Mit Spritz schafft man schon nach einer kurzen Gewöhnungsphase gut und gerne 350 Wörter pro Minute. Mit etwas Training sollen bald auch 450 Wörter ohne weiteres möglich sein. Mit sehr viel Übung erreicht man gar bis zu 1000 Wörter pro Minute.
Harry Potter mit Spritz
Diese Geschwindigkeit würde es erlauben, Harry Potter in 77 Minuten zu lesen – was hält Maurer davon? Seine Antwort überrascht: «Ich würde nie ein Buch mit Spritz lesen», sagt er. «Denn bei einem Buch wie Harry Potter geht es nicht nur um die reine Informationsaufnahme. Es ist auch ein Geniessen dabei.»
In der Tat bleibt das Geniessen einer Lektüre mit Spritz weitgehend auf der Strecke. Nach einer Passage sinnieren, einen wichtigen Teil nochmal lesen – das ist zwar über die Pausen- und Zurückspul-Fuktion möglich, aber wohl zu umständlich.
Der Spritz-Entwickler sieht primär ganz andere Anwendungsbereiche für Spritz: Smartphones oder Smartwatches. Also jene kleinen mobilen Geräte, auf denen wir heute mühsam scrollen und mit zugekniffenen Augen die kleinen Buchstaben entziffern müssen. Mit Spritz fallen Scrollen und ständiges Vergrössern auf dem Bildschirm weg.
Eine Hilfe für Legastheniker?
Auf eine weitere Anwendung ist Maik Maurer eher zufällig gestossen. Schon bei der Entwicklung von Spritz ist ihm aufgefallen, dass sich Menschen mit Leseschwierigkeiten von der Methode angesprochen fühlten. Diese zufällige Entdeckung soll jetzt erforscht werden. Im Moment laufen in Amerika mehrere Studien, welche die Möglichkeiten von Spritz für die Unterstützung von Legasthenikern auswerten.
Auch Monika Lichtsteiner, Präsidentin des Verbandes Dyslexie Schweiz, bekam von Direktbetroffenen ein zumindest leicht optimistisches Feedback bezüglich einer Anwendung von Spritz. Allerdings, so schränkt sie gleich ein, um Legasthenikern wirklich helfen zu können, müsse eine solche Technologie viel individueller zu nutzen sein. So sollte beispielsweise das Tempo während des Lesens variiert werden können. Positiv beurteilen Betroffene gemäss Lichtsteiner die Lesbarkeit der grossen Schrift.
Experten vermuten, dass Spritz auch Menschen mit einer Sehbehinderung, insbesondere mit Gesichtsfeldausfällen und Röhrenblick, helfen könnte. Wissenschaftlich getestet wurde dies allerdings noch nicht.
Kommt die Lese-Revolution?
Der Sprachwissenschaftler Thomas Lindauer sieht zwar Potenzial in der Spritz-Anwendung, würde aber auch kaum ein Buch auf diese Weise lesen. «Mein Leseverhalten ist nicht nur linear. Ich blicke voraus, will wissen, wie lang ein Kapitel noch ist, wie dick das Buch, ob's für ein Happy-End noch reicht. Ich lese zurück, weil ich mir bei einer Figur nicht mehr sicher bin, ob die das war, welche dieses oder jenes gesagt oder getan hat. Ich überfliege langweiligere Passagen.»
Trotzdem sieht auch er Chancen für neue Lesemethoden wie Spritz. «In einer multimedialen Lesewelt sind nicht mehr nur einfache Abbildungen, Grafiken und Tabellen wichtige Textelemente, sondern gerade in Bezug auf E-Books auch Animationen visueller und akustischer Art.» Lindauer denkt aber nicht nur an E-Books, sondern auch an Smartwatches oder Fitnessarmbänder, bei denen die Texte künftig auf kleinen Raum lesbar sein müssen. Da hat Spritz durchaus Potenzial.
Eine Lese-Revolution werden Maik Maurer und seine Kollegen aber wohl nicht auslösen. Auch in Zukunft dürften wir in unseren Breitengraden hauptsächlich noch von links nach rechts lesen und nicht mit Spritz-Tunnelblick. Aber sollte sich die Methode beispielsweise bei Smartphones oder auch auf Smartwatches durchsetzen, wäre es zumindest eine Evolution – Lesen 2.0.
Welche Erfahrungen Anwender und Fachleute mit Spritz und andere Schnell-Lese-Hilfen gemacht haben, lesen Sie hier. Und wer Schnell-Lese-Apps bei sich installieren möchte, findet hier praktische Informationen und Tipps.