Höhepunkt: Patent Ochsner
Das Anwärmen und Lösen der unübersehbar vorhandenen Anspannung dauerte zwar einen Moment. Spätestens ab dem sechsten Song «Ausklaar» war aber wirklich alles klar. Mit ihren Hits – ja, Hymnen – und ausgewähltem neuen Material verzauberten die Ochsners 20'000 Seelen auf dem Berner Hausberg. Für Büne Huber war es nicht die beste Ochsner-Show der Geschichte. Erfüllter kann man sich als Teil des Publikums nach einem Gurten-Konzert aber kaum fühlen.
Superpunkt: Lo & Leduc
Das Berner Duo brauchte keine Sekunde Anlaufzeit, um in die Gurten-Show rein- und an ihre Fans ranzukommen. Mit ihren Hits, einem gesunden Selbstvertrauen und der ganz offensichtlich grossen Liebe für diesen Hügel und dieses Festival feierten sie mit ihren Fans ein Fest. Gewisse Teile ihrer Show hatten zwar auch schon mehr Energie – aber für das unbestrittene Highlight des Samstagabends reichte das locker und mit Abstand.
Tiefpunkt: Twenty One Pilots
Ausser etwas laut war die Show des amerikanischen Duos Twenty One Pilots vor allem etwas: Eiskalt, was ihre Ausstrahlung betrifft, und musikalisch allerhöchstens lauwarm. Wer solche Popsongs als Duo live aufführt, hat natürlich Anrecht auf diverse Playback-Elemente. Die beiden Herren hätten aber durchaus mehr live spielen können als sie es für nötig halten. Erstaunlicherweise stiess die eher affige Show der Amerikaner auf ziemlich viel Sympathie und sorgte für Stimmung.
Ein Punkt mit Fragezeichen: Lauryn Hill
Der amerikanische Superstar wirkte während der hochprofessionellen Show auf dem Gurten konstant unzufrieden. Irgendwas schien ihr nicht perfekt. Was das war, weiss ich nicht. Was für mich dadurch geschah aber schon. Hill spielte eine perfekte Show, bei welcher mir aber irgendwie die Seele fehlte.
Glanzpunkt: Bilderbuch
Die Wiener Band Bilderbuch hat etwas, was sich viele andere wünschen: Einen eigenen Sound. Gepaart mit der glaubwürdigen Attitüde und dem Selbstverständnis, dass alles richtig ist, was auf dieser Bühne gerade passiert, bleiben Bilderbuch Österreichs coolste Band der Gegenwart. Das Gurtenfestival feierte Bilderbuch in, mit und zwischen ihren Hits.
Doppelpunkt: Editors
Was die britischen Editors auf der Zeltbühne boten, hatte Extraklasse. Die schweisstreibende Show fing gut an, wurde besser und endete monströs. So geht ein rockiges New Wave-Feuerwerk.
Anziehungspunkt: AnnenMayKantereit
Die Kölner Band AnnenMayKantereit gehört in die Kategorie «perfekte Gurten-Band». Mehr textsicher mitsingende Menschen kriegen nur wenige Bands vor die Hauptbühne. Sicher und energiegeladen spielte die angesagte Band um Henning May eine abgeklärte Show auf dem Berner Hausberg.
Guter Punkt: Faber
Ganz so schnell wie im St. Galler Sittertobel hatte Faber das Publikum auf dem Berner Gurten nicht im Sack. Die volle Aufmerksamkeit des Geländes genoss der Zürcher aber trotzdem und machte mit seiner Präsenz unmissverständlich klar, dass er dahin gehört, wo er gerade steht: Auf die grossen Bühnen der Festivals.
Orientierungspunkt: Sophie Hunger
Wo Sophie Hunger mit ihrem Konzert auf der Zeltbühne hinwollte, wurde mir nicht wirklich klar. Versuche, mit dem Publikum zu flirten, rutschen ab in komplett introvertierte Performancesequenzen und versuchten daraus auszubrechen, um den Pop-Moment zu finden. Hunger hatte schon klarere Pläne, um einen Auftritt aufzubauen.
Pluspunkt: Marius Bear
Der Appenzeller fühlte sich sichtlich wohl auf der Waldbühne des Gurtenfestivals. Klar gelöster als bei seinem Auftritt am Openair St. Gallen, aber kein bisschen weniger professionell, genoss er seinen Auftritt auf dem Gurten. Bei Bear geht viel und es kommt noch mehr. Hier wächst ein guter Musiker und Sänger zum Künstler.
Schwieriger Punkt: Big Zis
Wer von Big Zis einfach ein paar Songs mag, dürfte mit dem nicht durchwegs zugänglichen Auftritt der Zürcherin Mühe gehabt haben. Den Popmoment für einfache Gemüter zu kreieren, ist aber auch nicht ihr Ziel. Sonst hätte Big Zis nicht Evelinn Trouble in die Band geholt. Die Rapperin fiel dann aber doch zu wenig auf und zu sehr aus dem Rahmen, um wirklich etwas auszulösen.
Schwachpunkt: Anna Rossinelli
Anna Rossinellis Schwachpunkt ist ganz sicher nicht ihre Stimme. Die Band ist es auch nicht. Ein paar gute Songs hat sie ebenfalls. Was ich hingegen bis heute nicht weiss ist, wofür sie steht. Ich weiss nicht, wieso ich mich für ihre Musik interessieren soll, und so konnte sie mich auch auf dem Gurten nicht abholen. Das liegt nicht an der musikalischen Darbietung. Es liegt an der für mich fehlenden Attitüde.
Entwicklungspunkt: Velvet Two Stripes
Es ist noch ein langer Weg bis zum professionellen Auftritt der St. Galler Gitarrenband Velvet Two Stripes. Vor allem was bei den Blues-Rock-Frauen zwischen den Songs passiert, hat grosses Entwicklungspotential. Der sperrige Rock selbst ist aber immer mal wieder genau wie er sein soll: Verschroben und unangepasst.
Startpunkt: Coely
Souverän eröffnete die Belgierin Coely am Mittwoch die Hauptbühne des Gurtenfestivals. Sie kann singen, hat eine druckvolle Band und schaffte es bereits nach wenigen Takten, das Publikum von ihrer Qualität zu überzeugen. So legen Festival-Profis vor.
Sammelpunkt: Trettmann
Trettmann ist angesagt. Auch in Bern. Über fehlendes Publikum vor der Zeltbühne konnte sich der Chemnitzer definitiv nicht beklagen. Mit Songs wie «Grauer Beton» begeisterte er die Leute. Für mich bleiben die Songs selbst trotzdem stärker als der durchaus amtliche Auftritt des Dancehall-Cloud-Rappers auf dem Gurten.
Streitpunkt: Tash Sultana
Sultana begeisterte das Gurten-Publikum durch zwirblige Moves, Musikalität und die immer noch vorhandene Faszination für Solo-Acts mit Loopgeräten. Bei Sultana geht es um Vibes und die Zelebrierung der Multi-Instrumentalität. Mir fehlen bei Sultana die Songs und ich mag keine Panflöten-Soli.
Farbpunkt: Rosalía
Spaniens angesagtester Pop-Act überzeugte in erster Linie stimmlich. Da war Rosalía extrem präzise und äusserst virtuos. Ihre Show hingehen strahlte die Energie, die in ihren Songs steckt, nur streckenweise aus. Ihr wünsche ich eine richtig gute Live-Band. Aber: Hören werden wir von Rosalía so oder so sehr bald viel mehr.
Treffpunkt: Baze
Der Berner Baze spielte auf der Waldbühne des Gurtenfestivals eine ehrliche und erdige Show. Was er vom Publikum verlangt, ist nicht weniger als die vollste Aufmerksamkeit. Gibt man ihm diese nicht, hat man kein Konzert erlebt. Gibt man sie ihm, kriegt man einen tollen Act zu sehen. Noch etwas mehr nach vorne rappen und spielen stünde der ganzen Kiste gut.
Power-Punkt: Marteria & Casper
Wie funktioniert Festival-Energie? Fragt Marteria und Casper. Sie lassen weder Zeit verstreichen noch dem Publikum eine Chance, sich heimlich davonzuschleichen. Was mir im Bezug auf diese Show nach wie vor etwas Angst macht: Wie viele Leute sich gerne sagen lassen, was sie zu tun haben. Was mich beeindruckt: Wie sich diese zwei Festivaltiere abrackern, um das ganze Gelände fernzusteuern.
Cooler Punkt: Baloji
Vor einem viel zu kleinen Publikum eröffnete der belgische Rapper Baloji am Freitag die Hauptbühne. Wer da war, erfreute sich an dem funkigen Afrobeat mit World-, Blues- und Hip Hop-Elementen. Balojis Musik ist keine Revolution, aber eine partielle Weiterführung einer Tradition, die ihren Ursprung in den 1960ern hat.
Elfmeterpunkt: Rival Sons
Der schnörkellose Bluesrock der Amerikaner beherbergt zwar keine Überraschungen – dafür steckt in ihm ein ganzes Kapitel Rock-Geschichte, welches es zu pflegen gilt. So richtig aufregend ist die Kiste zwar nicht mehr. Aber gut trotzdem – und daher ein garantiertes Festival-Tor.
Schöner Punkt: Black Sea Dahu
Die Waldbühne auf dem Gurten ist wie gemacht für die Zürcher Folk-Band Black Sea Dahu. Sie spielten ein gemütliches Sommerabend-Konzert mit viel Tiefe. Dieser Band fehlt nichts. Ausser einem zweiten Hit und dem Bewusstsein, dass die Ansagen zwischen den Songs an einem Konzert mindestens so wichtig sind wie die Songs selbst.