Die Welt liegt ihr zu Füssen – und der Gurten auch: Rosalía (30) ist neben Lil Nas X der grösste internationale Star am diesjährigen Gurtenfestival. Ihr letzter Besuch liegt vier Jahre zurück. Damals stand sie auf der Zeltbühne, heute ist sie Headlinerin und liefert eine Show, die weit mehr ist, als ein Konzert.
Von Barcelona in die Welt hinaus
Guter Flamenco-Gesang, so sagt man in Spanien, flattere wie ein Drachen im Wind und sei genauso unbändig wie kontrolliert. Gilt auch für Rosalías Musik. Mit 15 Jahren stand sie erstmals auf der Bühne einer spanischen Castingshow. Kurz darauf studierte sie, vom Flamenco besessen, an der Musikhochschule ihrer Heimatstadt Barcelona. Die Katalanin sang sich mit ihrem Debütalbum zum Star in Spanien und eroberte mit ihrem zweiten Album «El mal querer» 2018 die Welt.
Es regnete Awards, Applaus und auch Kritik: Sie bediene sich an einer Musiktradition, die nicht ihre sei, wurde sie von süd-andalusischen Ur-Flamenco-Kreisen beschuldigt. «Flamenco gehört niemandem», konterte Rosalía. Dann kam «Motomami». Ihr drittes Album erweitert um Reggaeton- und Dembow-Rhythmen. Sie spickte sich mit schnellem Motorradfetisch (Moto) und zerbrechlichen Balladen (Mami) in noch höhere Sphären. Auf «Motomami» wird Mainstream-Pop endgültig zum globalen Avantgarde-Experiment.
Reggaeton für Reggaeton-Muffel
Wie kommt es, dass dieser durchdesignte Popstar auch von Feuilleton, Kulturredaktionen und Indie-Fans gefeiert wird? Ein Teil der Antwort liegt in ihrer atemberaubenden Stimme. Ein anderer in der Risikobereitschaft ihrer Musik. Sie kombiniert Flamenco-Handclaps mit Motorradsounds zu einem Trap-Beat. Zwischen energiegeladenen Reggaeton-Knallern zelebriert sie die Stille. «Ich brauche ganz, ganz, ganz viel Stille. Okay», sagte sie ihrem Publikum in Madrid 2019, hob zu einem Sologesang an und rührte alle zu Tränen.
Dieser gekonnte Tanz mit Kontrasten hebt sie ab von gefälligen Latin-Pop-Produktionen à la Bad Bunny, Shakira oder Luis Fonsi. Rosalía fasziniert Leute, die diese Art Musik eigentlich nicht mögen.
Wenn Rosalía eine Farbe wäre, wäre sie ein pralles, dunkles Kirschrot. Sie spricht nicht nur von der «erotischen Überlegenheit weiblicher Energie», sie spielt auch bewusst mit den Reizen. Nicht nur um aufzugeilen, sondern auch, um weibliche Archetypen zu untergraben.
Es ist nicht nur salopper Porno, wenn sie ihren Hintern auf Instagram im roten Latex-Mini in die Kamera streckt – sondern auch eine indirekte Aufforderung, Rollenbilder und «Klischées aufzulösen», wie sie sagt.
Was machte Rosalía mit dem Gurten?
Rosalía fegte alles weg. Mit ihrem motorisierten Reggaeton-Flamenco-Trap-Pop, ihrer gewaltigen und an Virtuosität kaum zu überbietenden Stimme, rotzte sie einen vor Perfektion strotzenden Auftritt hin. Dass dabei sogar Pausen vor Energie zu platzen drohten, ergänzte die Performance mit der Unbeschreiblichkeit grosser Pop-Momente.