Die Schweiz ist heute ein multikulturelles Land. Das ist nicht überall gleich sichtbar. Aber wird an Orten deutlich, die von einer Herkunftsgruppe speziell mitgeprägt werden – sei dies eine religiöse oder ethnische Gruppe.
Ein bekanntes Beispiel ist Täsch im Wallis. Das Dorf verfügt über eine ausserordentlich grosse portugiesische Gruppe. Im Emmental findet sich eine lebendige tamilische Gemeinschaft. Und im Stadtzürcher Quartier Wiedikon bestimmt das orthodoxe Judentum das Stadtbild mit.
Auch in Zahlen wird die Multikulturalität der Schweiz sichtbar. So haben knapp 40 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren einen Migrationshintergrund. Das sind fast 2.9 Millionen Menschen, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2021 besagen.
Eine Studie des Bundes zeigte bereits 2015, dass unter jungen Erwachsenen in der Schweiz fast 130 unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Fast 90 Prozent von ihnen haben ausländische Freunde.
Anders als in anderen Ländern, schlagen sich die kulturellen Einflüsse aber nicht in räumlich stark getrennten, sozialen Gruppen nieder: So etwas wie Chinatown, das man aus New York kennt und stark von chinesischen Eingewanderten geprägt ist, kennt die Schweiz nicht.
Auch sogenannte Brennpunktquartiere (wie Molenbeek in Brüssel oder Neukölln in Berlin) machen hierzulande nur punktuell Schlagzeilen. Der Fall war das beispielsweise vor ein paar Jahren rund um das Quartier Längi in Pratteln.
Welche Faktoren bestimmen, ob sich soziale Gruppen in gewissen Gebieten, Ortschaften oder Quartieren sammeln? Wann ist dies Herausforderung, wann aber auch Chance? Migrationsforscherin Denise Efionayi-Mäder ordnet ein.
SRF: Über die Abspaltung sozialer Gruppen liegen in der Schweiz relativ wenig Daten oder Studien vor. Woran liegt das?
Denise Efionayi-Mäder: Tatsächlich gibt es in der Schweiz noch wenig etablierte Forschung im Bereich Segregation. Das hat aus meiner Sicht auch damit zu tun, dass sie hier nicht als grosses Problem wahrgenommen wird.
Grundsätzlich scheint mir beim Thema wichtig zu erwähnen, dass sich Segregation keinesfalls nur um Problemgruppen oder Herkunftsgruppen dreht. Die grösste Trennung von sozialen Gruppen gibt es, auch weltweit, nach sozialem Status. Die ist oft gewollt: Wenn sich etwa wohlhabende Menschen in bestimmten Quartieren sammeln, weil nur sie dort die Mieten oder Häuserpreise bezahlen können.
Das wären im Extremfall abgeschlossene Reichenquartiere, wie es sie in anderen Ländern durchaus gibt. Wieso finden sich im Ausland aber auch mehr Beispiele für die Segregation nach Herkunft?
Ich denke da an London, wo somalische oder sri-lankische Zugewanderte bestimmte Stadtteile stark prägen. Dahinter steckt auch sogenannte Kettenmigration, bei der die Menschen dorthin gehen, wo sie Bekannte und Verwandte kennen. In diesen Quartieren helfen sich die Menschen gegenseitig aus, arbeiten möglicherweise in ethnisch geprägten Branchen.
In diesem Ausmass gibt es das nicht in der Schweiz. Wohl auch, weil die Schweiz schlicht zu klein ist. Hierzulande gibt es aber sicherlich Unterstützungsnetzwerke, beispielsweise von Migrantinnen aus Sri Lanka.
Es ist praktisch unmöglich, in der Schweiz Jahrzehnte zu leben, einzukaufen, medizinische Versorgung zu haben – und das alles in der Sprache des Herkunftslandes.
Welche weiteren Gründe gibt es, dass es in der Schweiz weniger Segregation gibt?
Ein weiterer Grund ist wohl, dass in der Schweiz so viele unterschiedliche und diverse Herkunftsgruppen leben. Und dass es nicht so grosse Gruppen sind wie etwa beim Beispiel London. Es ist praktisch unmöglich, in der Schweiz Jahrzehnte zu leben, einzukaufen, medizinische Versorgung zu haben – und das alles weitgehend in der Sprache des Herkunftslandes.
Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Rolle des hiesigen Häusermarkts: In anderen Ländern, speziell englischsprachigen, werden Häuser deutlich schneller gekauft und verkauft. In der Schweiz ist das schwieriger und teurer. Die Flexibilität bei der Wohnortsuche ist dadurch klein, die meisten mieten. Es fehlen hier insgesamt sowohl Raum als auch Bewegungsfreiheit, um sich als Gemeinschaft abzuschotten.
Dennoch gibt es Segregation auch in der Schweiz, wenn auch im Kleinen. Häufig leben besonders neu angekommene Zugewanderte als Mieter in bestimmten Stadtteilen.
Die Einwanderer ziehen oft dorthin, wo es am günstigsten ist. Aber auch sonst spielen wirtschaftliche Faktoren eine tragende Rolle, wenn sich Gruppen in bestimmten Gebieten sammeln: Zu den am stärksten segregierten Einwanderungsgruppen der Schweiz zählen erwiesenermassen die Nordamerikanerinnen. Sie sind häufig in bestimmten globalen Unternehmen beschäftigt und sammeln sich dann in gesuchten städtischen Wohnlagen.
Das kann aber auch bei weniger wohlhabenden Gruppen passieren, mit anderen wirtschaftlichen Voraussetzungen. Wäre hier Rikon im Zürcher Tösstal ein Beispiel, wo tibetische Flüchtlinge in den 60er-Jahren Arbeit gefunden haben?
Genau. Das Phänomen ist heute zum Beispiel im Wallis bekannt, wo sich teils eine höhere Segregation gerade portugiesischer Menschen findet. Das ist dort der Fall, wo sich ein sehr touristisches Dorf befindet, in welchem sich eben die Touristinnen aufhalten.
Und in der Ortschaft nebenan leben die Portugiesinnen, welche im Tourismussektor arbeiten, sich die Mieten im Tourismus-Hotspot selbst aber nicht leisten können.
Oft sind die Menschen stolz, in einem multikulturellen Umfeld zu leben.
Bei Segregation denken viele unmittelbar an Brennpunktquartiere. Inwiefern lässt sich das Phänomen auch positiv deuten?
Für die Menschen in den Gemeinschaften ist es erstmals eine Chance, wenn sie Bekannte vorfinden. Das ermöglicht Nachbarschaftshilfe und Unterstützung beim Einleben, auch etwa bei der Kinderbetreuung. Oft sind die Menschen auch stolz, in einem multikulturellen Umfeld zu leben.
In Genf, wo ich lebe, kenne ich Quartiere mit hohem Ausländeranteil, welche von den Einwohnerinnen gerade deswegen sehr geschätzt werden. Immerhin ermöglicht dies auch einen kulturellen Austausch.
Wann wird es problematisch, wenn sich Gesellschaftsgruppen in bestimmten Gebieten sammeln?
Schwierig wird es dann, wenn kein Austausch mit der übrigen Gesellschaft mehr stattfindet. Oder wenn geradezu ein eigenes Territorium beansprucht wird. Das ist aber ein Extremfall, der selten vorkommt. Auch wenn deswegen in der Schweiz lange eine gewisse Angst vor bestimmten ausländischen Zugewanderten kursierte. Da sprechen wir vom Schreckgespenst der Parallelwelten.
Ich selbst habe vor zwei Jahren an einer Studie mitgearbeitet, in der wir Menschen in den Agglomerationen direkt befragt haben. Gezeigt hat sich, dass sich die Menschen einen Austausch wünschen, gleichzeitig aber auch die Anonymität. Dass der jeweils andere in Ruhe gelassen wird. Der deutsche Soziologe Georg Simmel bezeichnete diese «Kunst des Distanzhaltens» als urbane Tugend.
Das Gespräch führte Vera Büchi.