«Eigentlich kam Max in die Schweiz, um ein Auto zu kaufen. Und dann hoffte er, vielleicht ein Mädchen zu finden, das mit ihm kommt», erzählt die 88-jährige Hanni Padrutt. Max Padrutt – ein gelernter Käser aus Arosa – war damals daran, sich in Neuseeland ein neues Leben aufzubauen. Doch etwas fehlte ihm zu seinem Glück, und deshalb kehrte er anfangs der 1960er-Jahre noch einmal in seine alte Heimat zurück.
Kurzentschlossen nach Neuseeland
Max schaltete in der Bauernzeitung «Die Grüne» ein Inserat: «Auslandschweizer sucht Freundin nach Neuseeland». Die in der Umgebung von Winterthur aufgewachsene Hanni wollte schon immer gerne ins Ausland.
Die damals 24-Jährige schrieb auf die Annonce zurück und warf das Couvert, ohne lange zu überlegen, in den gelben Briefkasten: «Ich dachte, wenn ich bis morgen warte, dann kommt der Brief ins Feuer, oder ich schicke ihn doch nicht ab.» Dass daraus wirklich etwas entstehen könnte, glaubte Hanni aber nicht ernsthaft.
Doch es kam anders. Hanni erinnert sich an den Moment, als Max sie das erste Mal besuchte: «Ich bin fast im Boden versunken, ich war so erschrocken! Aber er war gutaussehend und sympathisch.» Die beiden verstanden sich bestens und Hanni beschloss kurzerhand, mit Max nach Neuseeland zu gehen.
Um die Familie zu beruhigen, verlobten sich die beiden noch schnell in der Schweiz. Übrigens: Ein Auto fand Max auch. Sein Besuch in der alten Heimat war also ein Erfolg auf der ganzen Linie.
Der Traum vom besseren Leben
Die Reise mit dem Schiff dauerte fünf Wochen. Hanni und Max reisten in getrennten Kabinen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben verband sie.
Denn Max war in einem Heim aufgewachsen und Hanni in bescheidenen Verhältnissen gross geworden. In Neuseeland hatten sie die Chance etwas aufzubauen, wie es in der Schweiz kaum möglich gewesen wäre.
Die beiden arbeiteten zuerst als Angestellte auf einer Farm. Bald konnten sich Hanni und Max einen eigenen Hof in der Region Taranaki auf der Nordinsel kaufen, wo sie Milchwirtschaft betrieben. Sie gründeten eine Familie und bekamen vier Söhne und zwei Töchter.
«Jeden Tag war viel los. Ich war immer froh, wenn am Abend alle gesund im Bett waren. Es waren strenge, aber glückliche Jahre», erzählt Hanni. Doch leider währte das Glück viel zu kurz: Max erkrankte an einem Hirntumor und verstarb mit nur 60 Jahren.
Noch eine Schweizer Auswanderin
Nach Max’ Tod übernahm der älteste Sohn Christian den Hof. An seiner Seite nicht etwa eine neuseeländische Frau, sondern Dorothe. Sie stammt wie Hanni aus der Region Winterthur und kam Ende der 1980er-Jahre als Au-pair nach Neuseeland.
Sie fand in Christian ihre Liebe und ein neues Zuhause. Doch der Weg war geprägt von Heimweh und schwierigen Entscheidungen.
Als Dorothe auf die Farm ihres Mannes Christian zog, hatte sie keine Erfahrung in der Landwirtschaft. «Ich musste auf dem Hof anpacken, und dann kamen sehr schnell Kinder hinzu», erzählt sie.
Dorothe konnte kaum Englisch und fühlte sich oft alleine. Die Sehnsucht nach der alten Heimat machte ihr schwer zu schaffen. «Mein Heimweh hat mich fast umgebracht», gesteht Dorothe.
Die heimatlose Nacht
Dies belastete auch die Beziehung zu ihrem Mann Christian zunehmend: «Wir hatten damals bereits ein Kind und ich war schwanger mit dem zweiten. Dann hat Christian zu mir gesagt: ‹Wenn du so unglücklich bist, dann geh zurück in die Schweiz.› Ich hatte eine heimatlose Nacht. Ich lag im Bett und dachte, was mache ich jetzt?»
Am nächsten Morgen versprach ihr Christian, dass sie es gemeinsam in der Schweiz versuchen würden, falls sie es in Neuseeland nicht schaffte. «Das war für mich die Wende von allem», sagt sie. Die Unterstützung von Christian half ihr, sich in Neuseeland wirklich wohlzufühlen.
Der dritte Winterthur-Export
Mit ihren Erfahrungen war Dorothe später eine Stütze für die nächste junge Frau, die aus Winterthur den Weg nach Neuseeland fand. Anja kam als 19-Jährige ebenfalls als Au-pair auf die Nachbarsfarm der Padrutts. So lernte sie Mario kennen, den jüngsten Sohn von Hanni.
Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz dachte Anja, dass es das wohl gewesen sei mit der weltumspannenden Liebe. «Doch dann hatte Mario die Idee, er könnte ja mal in die Schweiz kommen», erinnert sie sich.
Mario reiste mit einem Koffer in die Schweiz und plante, ein Jahr zu bleiben. Es wurden schliesslich zehn Jahre daraus, und bei ihrer Rückkehr nach Neuseeland hatten Mario und Anja neben Koffern auch zwei kleine Kinder dabei.
«Nur wer ausgewandert ist, kann das verstehen»
Es war Anja, die vorschlug, für eine Auszeit nach Neuseeland zu gehen. «Ich war hundert Prozent sicher, dass ich nicht auswandere, weil ich einen sehr engen Zusammenhalt mit meiner Familie habe», sagt Anja. Doch ihr Aufenthalt in Neuseeland wurde immer länger und länger. Nun leben sie seit 20 Jahren in der Nähe von New Plymouth.
Anja litt sehr unter Heimweh: «Ich würde sagen, es war zeitweise sogar fast eine Heimwehdepression.» Die Freundschaft zu ihrer Schwägerin Dorothe half ihr sehr. Sie hätten wirklich auch andere tolle Freundinnen hier in Neuseeland, sagt Anja, «aber nur wer ausgewandert ist, versteht, wie es sich anfühlt, wenn du zwei Zuhause hast.»
Enkel sprechen immer noch Schweizerdeutsch
Die Padrutts haben ein sehr enges Verhältnis untereinander. Vielleicht auch deswegen, weil sie eine ganz eigene Identität als Swiss-Kiwis haben. Hannis Enkel pflegen noch immer ihre Schweizer Wurzeln. Sie sprechen gut Schweizerdeutsch und fahren sogar Ski. Auf dem Vulkan Mount Taranaki hilft die Familie mit, einen Skilift zu betreiben.
«An Weihnachten und Ostern kommen wir immer zusammen», erzählt Julia, eine der Enkelinnen. Diese enge Verbindung ist ein Vermächtnis von Hanni, die vor über 60 Jahren nach Neuseeland auswanderte. «Das alles hat die Nenna aus dem Nichts geschaffen», sagt Moritz, ein weiterer Enkel.
Hätte Hanni damals den Brief an Max nicht abgeschickt, sondern ins Feuer geworfen, gäbe es die Familie Padrutt in Neuseeland heute so nicht. Hannis Geschichte zeigt, wie kleine Entscheidungen das Leben in ungeahnte Bahnen lenken können. «Ich wollte nie zurück nach Hause gehen. Es hat mir in Neuseeland immer gut gefallen», sagt die 88-Jährige rückblickend.