Florence Woodtli übernimmt das Unternehmen ihres Vaters. «Es war nicht mein Traum, den Weinhandel zu übernehmen», sagt sie nüchtern. Eigentlich hatte sie beruflich andere Pläne.
Sie studierte Umweltingenieurwesen und hat auf diesem Beruf gearbeitet. Als es ihrem Vater gesundheitlich plötzlich schlecht ging, gab sie ihren Job auf und übernahm seinen Laden in Stäfa im Kanton Zürich.
Für Felix Woodtli ein grosses Glück. «Für mich geht natürlich ein Traum in Erfüllung. Aber ich hätte es voll akzeptiert, wenn sie ‹Nein› gesagt hätte.» Dann hätte er den Weinhandel, der Teil einer Genossenschaft ist, auflösen müssen.
1.6 Millionen Arbeitsplätze
Die Woodtlis sind keine Ausnahme: In der Schweiz sind laut einer Umfrage der Universität St. Gallen und der Credit Suisse aus dem Jahr 2016 rund drei Viertel der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in der Schweiz Familienunternehmen.
Das entspricht 1.6 Millionen Arbeitsplätzen. Und obwohl die familieninterne Weitergabe die häufigste Form der Weiterführung ist, lassen sich in vielen Fällen keine Nachfolger finden. 2023 waren 94'854 Unternehmen auf der Suche nach einer Person, die den Familienbetrieb übernehmen kann. Das zeigt eine Erhebung der Inkassogesellschaft Dun & Bradstreet.
Das Lebenswerk der Familie weiterführen
Auch Mark Huber stellt sich der Herausforderung Familienbetrieb, er wollte es unbedingt probiert haben. Vor fünf Jahren übernimmt er die Stahl- und Metallbaufirma seines Vaters in vierter Generation in Männedorf im Kanton Zürich.
«Mein Vater hat mich immer unterstützt, wenn ich etwas verändern wollte. Aber ansonsten hat er mich einfach machen lassen. Oft stand ich allein da.» Ob das auch mal schiefgegangen ist? «Immer wieder», so Mark. Aber irgendwie gehe es dann doch weiter. Aus Erfahrung weiss er, wie viel Arbeit der Übergabeprozess bedeutet: «Es braucht eine Extrameile.»
Es habe nicht lange gedauert, bis sich Mark in seiner neuen Aufgabe zurechtgefunden habe. «Intensiv wurde es, als ich etwas verändert habe.» Mark baut in der Firma eine interne Konstruktions- und Planungsabteilung auf. Aufgaben, die bis anhin von externen Firmen übernommen wurden. «Da kamen die zeitintensiven Momente.»
Alexandra Bertschi ist Spezialistin für Familienunternehmen und Nachfolgeplanung bei PricewaterhouseCoopers (PwC). Sie kennt den Erwartungsdruck, der auf den Schultern der jungen Generation liegt: «Mir hat auch schon ein junger Unternehmer gesagt, dass er in sechster Generation nicht derjenige sein könne, der das alles kaputt macht.»
Wichtig sei, dass die Jungen wirklich wollten. Wenn sie es nur aus einer emotionalen Verpflichtung heraus und nicht aus Freude am Betrieb machten, komme es nicht gut heraus, weiss Bertschi.
Die Eltern müssen loslassen
Auch wenn die Übergabe gelingt, ist sie voller Tücken: Die Universität St. Gallen hat in einer Studie 2022 Unternehmen zum Thema Nachfolge befragt. 30 Prozent der Nachfolger und Nachfolgerinnen geben an, dass der Vorgänger oder die Vorgängerin die Führung nicht loslassen könne.
Studie der Universität St.Gallen
Fast jeder und jede Zweite hält sich auch zwei Jahre nach der Übergabe noch im Büro auf. Deshalb fühlen sich viele Nachfolgende dazu verpflichtet, den Vorstellungen der älteren Generation nachzukommen.
Auch Livio Bieler aus Bonaduz in Graubünden hat gelernt, sich in der Betriebsübergabe durchzusetzen: «Ihr müsst mich auch mal etwas machen lassen, sonst verliere ich die Freude», sagte er zu seinen Eltern.
Der ehemalige Langlauf-Profi steigt vor drei Jahren in den Sportbetrieb seiner Eltern ein, lernt die Abläufe kennen und überlegt, wie er das Geschäft modernisieren kann. An Ideen mangelt es ihm nicht: Er bringt neue Marken ins Sortiment und führt ein Bikefitting ein: eine Station, bei der Kundinnen und Kunden ihr Velo auf ihre Masse und Bedürfnisse einstellen können.
Zu Beginn der Zusammenarbeit sei es noch öfter zu Unstimmigkeiten gekommen, aber bis jetzt hätten sie noch immer einen Kompromiss gefunden, sagt Vater Norbert Bieler.
Livio ist sich auch bewusst, dass er in Zukunft nicht nur über den Sportladen in Bonaduz an Kundschaft kommen muss, die Konkurrenz durch den Online-Markt ist gross. Er plant deshalb einen zweiten Standort in Chur.
Livio Bieler profitiert aber auch vom Erfahrungsschatz seines Vaters, etwa in Sachen Kundenberatung: «Man soll aus eigener Erfahrung beraten und Produkte nicht schlechtreden. So, dass der Kunde mit einem guten Gefühl selbst entscheiden kann.»
Momentan hält Vater Norbert noch die Zügel in der Hand, er plant etwa die betrieblichen Abläufe. «Aber das Ziel ist, dass Livio in drei Jahren den Karren zieht», sagt er mit Blick auf die Pension.
Die Jungen wachsen in eine neue Rolle
Florence Woodtli ist im Januar 2023 in den Weinhandel ihres Vaters eingestiegen, heute ist sie Teil der Geschäftsleitung. Wann genau sie die alleinige Verantwortung tragen wird, ist noch nicht klar. Sie setzt aber schon ihre Ideen für die Zukunft um.
Sie arbeitet zum Beispiel an einer neuen Website. Die alte wurde von Vater Felix designt, über die Jahre habe er viel positives Feedback dafür bekommen. Auf die Frage, ob es denn gar keine neue brauche, sagt er: «Da mische ich mich nicht mehr ein.»
Es gebe immer noch Dinge, in denen sie sich uneinig seien, sagt Florence Woodtli, aber im Grossen und Ganzen könne ihr Vater gut loslassen. «Die Balance macht’s», sagt sie. «Am Anfang wollte ich voll reinfräsen, den Laden auf den Kopf stellen. Aber dazu fehlt mir die Zeit, darum mache ich lieber viele kleine Schritte.» Sie habe grossen Respekt vor dem Netzwerk, das sich ihr Vater aufgebaut hat. Das sei Gold wert.
Auch wenn sie ursprünglich nicht im Weinhandel arbeiten wollte, findet sie heute Gefallen an ihrem neuen Job. Ihr gefällt, dass sie mit einem Produkt arbeitet und konkrete Ziele verfolgen kann. «Es ist sehr vielseitig und abwechslungsreich.»
Wichtig ist, dass man es nicht von Anfang an als sein eigenes Unternehmen ansieht. Sondern als etwas, das über Generationen entstanden ist.
Nicht zuletzt ist es auch eine grosse Chance, einen Familienbetrieb weiterzuführen. Mark Huber hat durch die Übernahme viel dazu gelernt, etwa, wie essenziell im Prozess Zuhören und offen Sein für Neues ist.
Er sagt: «Wichtig ist, dass man es nicht von Anfang an als sein eigenes Unternehmen ansieht. Sondern als etwas, das über Generationen entstanden ist. Wenn man von Anfang an nur seine eigene Linie fährt, kommt es zu unnötigen Konfrontationen. Wer diskutiert, findet Lösungen.»