«Ich fühlte mich misshandelt», sagt die zweifache Mutter Nataša Bilgin. Bei der Geburt ihres ersten Kindes sei ihr ohne ihre Einwilligung ein Opiat verabreicht worden, das den Körper lahmgelegt habe.
Als sie um Hilfe gebeten habe, sei sie von der Hebamme ausgelacht worden. Für Nataša eine traumatisierende Erfahrung.
Abschätzige Bemerkungen, Beleidigungen, unnötige Untersuchungen oder medizinische Eingriffe ohne Erklärung: all das wird als Gewalt unter der Geburt bezeichnet. Auch physische Gewalt ist damit gemeint. Oft berichten Betroffene von verbalen Demütigungen oder von Zwang auf der Entbindungsstation.
«Jede Frau hat das Recht, selbst über ihren Körper, das Geburtsgeschehen und den Geburtsverlauf zu entscheiden», sagt Mélanie Levy, Co-Direktorin am Institut für Gesundheitsrecht in Neuenburg im SRF-Podcast «Das Birthkeeper System». Das Selbstbestimmungsrecht sei ein Grundpfeiler des Gesundheitsrechts.
Jede Frau darf über den Geburtsverlauf entscheiden – eigentlich
Heisst: Jede Frau kann in der Theorie nach vorgängiger Information über jede Vaginaluntersuchung, jeden Dammschnitt oder Kaiserschnitt entscheiden. In der Praxis sei dies häufig nicht der Fall.
Rechte von Frauen unter der Geburt können laut Levy beschnitten werden. Es könne sein, dass in einem absoluten Notfall, bei einer Gefährdung des Lebens des Kindes oder bei vorliegender Unzurechnungsfähigkeit der Frau ein Arzt oder eine Ärztin eigenmächtig Entscheide treffen müsse.
Das sei jedoch sehr selten der Fall, sagt auch Werner Stadlmayr, langjähriger Gynäkologe und Geburtshelfer: «Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal zu einer sogenannten Notfall-Sectio rennen musste.»
Jede vierte Frau erlebt Zwang
Würden die Rechte einer Gebärenden missachtet, sei dies eine Form von Gewalt unter der Geburt, ordnet Gesundheitsrechtsexpertin Mélanie Levy ein. Das reiche von medizinischen Interventionen ohne vorgängige Information, über Vaginaluntersuchungen durch mehrere Personen, die nicht zwingend nötig wären, bis hin zu «verbalem Missbrauch», so Levy. Körperliche Gewalt sei der Extremfall.
Wie häufig Frauen in der Schweiz Gewalt bei der Geburt erleben, wird nicht erhoben. In einer Umfrage der Berner Fachhochschule von 2020 wurden 6’000 Frauen zu ihrer Geburt befragt. Das Wort «Gewalt» kommt in der Studie nicht vor, aber es geht unter anderem um «informellen Zwang» – damit sind Handlungen gegen den Willen einer Patientin gemeint. Jede vierte befragte Frau hat angegeben, dies erlebt zu haben. Fast jede zweite fühlte sich über Interventionen während der Geburt ungenügend informiert.
Auch Gina Tanner Gobine erlebte Gewalt unter der Geburt. Sie fühlte sich von ihrer Ärztin und Hebamme nicht ernst genommen: Es wurde der umstrittene Kristeller-Handgriff ohne Vorinformation und ohne ihre Einwilligung angewendet.
Dabei wird mit vollem Körpergewicht auf den Oberbauch der Frau gedrückt. So soll die Geburt beschleunigt werden. Der Griff wird von der WHO und dem Schweizerischen Hebammenverband nicht empfohlen.
«Niemand gab mir Bescheid, was vorgeht. Ich fühlte mich wie ein Produkt», erzählt Gina Tanner Gobine unter Tränen.
Psychische Wunden nach der Geburt
Es sei erstaunlich, wie viele Frauen nach ihrer Geburt psychisch belastet seien, sagt Gynäkologe Werner Stadlmayr. Betroffene hätten sich nicht gehört gefühlt. Die medizinische Geburtshilfe in der Schweiz sei auf einem sehr hohen Qualitätslevel, angesichts der tiefen Mütter- und Kindersterblichkeit.
«Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn wir integrieren, wie es Frauen nach der Geburt geht», so Stadlmayr. Die Gefühlswelt der Frau würde in den fixen Abläufen in Spitälern nicht immer berücksichtigt. «Ich behaupte keinesfalls, dass Ärztinnen und Hebammen in grossen Spitälern nicht einfühlsam sind. Aber sie sind manchmal einem Takt unterworfen, der ihnen es nicht ermöglicht, das zu leben.»
Fachkräftemangel im Gebärsaal
Die Geburtshilfe in Spitälern ist fragmentiert, sagen Fachpersonen wie Werner Stadlmayr oder Barbara Stocker, die Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands. Immer wieder könne die werdende Mutter festhalten, wie sie sich ihre Geburt vorstellt. Doch ob ihre Wünsche am Tag der Geburt berücksichtigt werden, ist laut Barbara Stocker nicht gewährleistet.
Hebammen können die Betreuung nicht so gestalten, wie sie das möchten.
Laut Stocker stehen Hebammen durch den Fachkräftemangel unter grossem Druck: «Sie betreuen oft viele Frauen parallel und können die Betreuung nicht so gestalten, wie sie das eigentlich möchten – nämlich eins zu eins.»
Der Hebamme fehle oft die Zeit, bei jeder Frau zu merken, was sie gerade bräuchte. «Die Betreuung im Spital ist sicher nicht flächendeckend schlecht», hält die oberste Hebamme der Schweiz fest. Aus Erfahrung weiss sie aber: Es gebe Dienste und Tage, wo die Auslastung des Personals extrem sei.
Westschweiz ist weiter als Deutschschweiz
Wenn eine Frau Gewalt unter der Geburt erlebt hat, empfiehlt Barbara Stocker, das Gespräch mit der Gebärabteilung zu suchen. Rückmeldungen seien wichtig, um aus Fehlern zu lernen. Das brauche jedoch Kraft, die eine Frau womöglich erst einige Zeit nach der Geburt aufbringen könne.
Auch Nataša Bilgin half es sehr, darüber zu sprechen. Sei es mit einer Psychologin, einer Freundin oder anderen Müttern. Ein ausschlaggebender Punkt, der ihr half, das Geschehene zu verarbeiten, war die Vorbereitung auf ihre zweite Geburt. Und trotzdem sei ihre erste Geburtserfahrung auch bei der zweiten Geburt präsent gewesen: «Ich hatte Angst davor, dass ich die Geburt nicht schaffe.»
Ihr Hebammenteam und eine Doula konnten ihr die Sicherheit geben, die ihr während der ersten Geburt fehlten und Nataša konnte ihr Trauma hinter sich lassen.
«Ausgangspunkt aller Ansätze muss das Anerkennen negativer Geburtserfahrungen sein», findet Gesundheitsrechtlerin Mélanie Levy. Interessant findet sie, dass einige Spitäler in der Westschweiz Nachbesprechungen auf den Entbindungsstationen anbieten würden – mit geführter Mediation. Frauen hätten hier die Möglichkeit, von ihren Geburtserfahrungen zu berichten.
Beeinflusst von der Debatte in Frankreich, sei die Westschweiz grundsätzlich etwas weiter als die Deutschschweiz, wenn es um Gewalt bei der Geburt gehe – auch mit der Aufarbeitung der Zahlen.
Frauen suchen nach alternativen Geburten
Manche Frauen, die traumatisierende Geburtserfahrungen hinter sich haben, wenden sich ganz vom Gesundheitssystem ab und entscheiden sich zum Beispiel für eine Alleingeburt ohne medizinische Hilfe, abseits des Systems. Davon raten medizinische Fachpersonen wie Werner Stadlmayr oder Hebamme Barbara Stocker ab.
Je selbstbestimmter eine Frau ist, desto besser ist das für die positive Wahrnehmung der Geburt.
Gina Tanner Gobine hat heute einen Wunsch: Sie will Frauen die Unterstützung geben, die sie selbst während ihrer eigenen Geburt vermisste. Deshalb lässt sie sich zur Doula ausbilden.
Aufgrund ihrer Erfahrungen weiss sie, wie wichtig der emotionale Beistand während der Geburt ist. Als Doula begleitet sie schwangere Frauen auf ihrem Weg zur Mutterschaft. Sie bespricht mit ihnen den Geburtsplan und ist bei der Geburt zusätzlich zur Hebamme anwesend: «Je mehr eine Frau weiss und je selbstbestimmter sie ist, desto besser ist das für die positive Wahrnehmung der Geburt.»