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Das Birthkeeper System 1/4: Eine Alleingeburt geht viral
Aus News Plus Hintergründe vom 28.06.2024. Bild: shutterstock/Gabriela Le
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Freebirth-Bewegung Warum Frauen eine Alleingeburt wollen

Sie wollen eine Geburt ohne Hebamme, ohne Arzt oder Ärztin. Viele von ihnen teilen ihre Geburtsberichte in den sozialen Medien. Frauen, die sich für eine Alleingeburt oder «Freebirthing» entscheiden, kehren dem Gesundheitssystem den Rücken zu. Was sind ihre Beweggründe?

Das Video einer deutschen Freebirtherin wurde über 250'000 Mal angeschaut und löste heftige Diskussionen aus. Weltweit wurde über die Frau berichtet, die ihr Kind ganz alleine im Meer am Strand von Nicaragua zur Welt brachte und sich dabei filmen liess.

Doch beim Freebirthing geht es um mehr als um einen Internethype. Dahinter steckt eine Bewegung mit teilweise radikalen Zügen, die auch Anhängerinnen in der Schweiz hat. In einem Land, das sich eines der teuersten Gesundheitssysteme weltweit leistet.

Gründe für eine geplante Alleingeburt

SRF-Journalistin Vanessa Ledergerber hat für die Podcastserie «Das Birthkeeper System» mit Schweizerinnen gesprochen, die sich für eine Alleingeburt entschieden haben. Ihre Beweggründe sind unterschiedlich: Für Sue Strack zum Beispiel war von Anfang an klar, dass sie die alleinige Verantwortung für ihre Geburt tragen möchte. Sie verzichtete während der Schwangerschaft auf jegliche Voruntersuchungen und brachte im Mai ihre Tochter auf eigene Faust zur Welt.

Schon ihr erstes Kind wollte die 31-Jährige ohne medizinische Hilfe gebären, doch die Geburt endete mit einem Not-Kaiserschnitt im Spital. Das Erlebnis habe sie traumatisiert, so Strack. Sie fühle sich am sichersten mit einer geplanten Alleingeburt.

Eine Frau mit blondem Haar (Rahel Betschart) und eine schwangere dunkelhaarige Frau am Meer liegend (Sue Strack)
Legende: Erlebten Geburten ohne medizinische Begleitpersonen Rahel Betschart (links) und Sue Strack (rechts) haben sich beide für eine Alleingeburt entschieden – aus unterschiedlichen Gründen. SRF und Youtube

Sue Strack tauscht sich regelmässig mit anderen Freebirtherinnen aus: «Für mich ist es wertvoll, sich mit Leuten zu umgeben, die in eine ähnliche Richtung gehen und die einander ermutigen.»

Eine Geburt im Auto als Schlüsselereignis

Auch Rahel Betschart ist Teil der Freebirth-Community. Die 36-Jährige hat sechs Kinder, das letzte hat sie alleine bei sich Zuhause zur Welt gebracht, obwohl ihr ihre frühere Hebamme davon abgeraten habe. Dass es für sie so aber richtig sei, habe ihr eine vorangegangene, ungeplante Alleingeburt im Auto gezeigt: «Ein Wahnsinnserlebnis für mich, dass ich das ohne Hilfe geschafft habe. Ich merkte: Die Geburt an sich kann dir ja sowieso niemand abnehmen.» Sie sei eine Person, die die Führung abgebe, sobald Fachleute anwesend seien.

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Das Birthkeeper System 2/4: Rahel will Birthkeeperin werden
aus News Plus Hintergründe vom 01.07.2024. Bild: SRF
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In der sogenannten «Freebirth Society» herrscht verbreitet die Haltung, dass eine selbstbestimmte Geburt in einem Spital oder in Anwesenheit von medizinischem Fachpersonal nicht möglich ist und dass es zwangsläufig zu Interventionen und Übergriffen käme.

Entscheidung aus Ohnmachtsgefühl?

«Das entspricht nicht meiner Erfahrung», entgegnet der langjährige Gynäkologe und Geburtshelfer Werner Stadlmayr. Auch in einem Spital sei es möglich, eine natürliche Geburt zu erleben, bei der auf die Bedürfnisse der Frau Rücksicht genommen werde.

Das System ist nicht so beinhart, wie manche vielleicht denken.
Autor: Werner Stadlmayr Langjähriger Gynäkologe und ehemaliger Chefarzt

Er glaubt, dass sich Frauen aus einem Ohnmachtsgefühl gegenüber dem System für eine Alleingeburt entscheiden würden: «Doch das System ist nicht so beinhart, wie manche vielleicht denken.»

Stadlmayr sagt aber auch: «Wenn eine Frau sich bei einer Spitalgeburt nicht mehr selber spüren kann, weil sie strikten Regelungen unterworfen ist, weil sie immer einen Tropf bekommt und man ihr die Fruchtblase öffnet, dann ist das gefährlich. Das läuft heute hoffentlich nicht mehr so.»

Zentral sei, dass in jeder Situation adäquat gehandelt werden könne, so Stadlmayr. «Dass man auch bei einer Hausgeburt zum richtigen Zeitpunkt entscheiden kann, wenn eine Frau doch noch besser in ein Spital sollte.»

Oberste Hebamme rät von Alleingeburt ab

Von Alleingeburten rät Werner Stadlmayr ab, wie auch sein Berufsverband, die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Auch Barbara Stocker, die Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands, hält fest: «Ich würde jeder Frau raten, sich bei der Geburt zumindest von einer Hebamme betreuen zu lassen. Auch wenn diese vielleicht gar nichts tun muss – sie ist der Fallschirm, wenn etwas schiefgeht und kann medizinische Erstmassnahmen treffen.»

So gebärt die Schweiz – vier Fakten

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  • In der Schweiz finden 95% der Geburten im Spital statt.
  • Die Müttersterblichkeitsrate in der Schweiz ist auf einem sehr tiefen Niveau und beträgt fünf Todesfälle pro 100'000 erfolgreiche Geburten.
  • Jedes dritte Kind kommt per Kaiserschnitt zur Welt. Die Kaiserschnittrate variiert regional und ist in bestimmten Regionen doppelt so hoch wie in anderen.
  • 2017 wurde jede vierte Geburt eingeleitet – auch hier variiert die Rate je nach Kanton stark. 

Stocker prognostizierte schon 2018, dass Alleingeburten zunehmen könnten. Obwohl keine Zahlen dazu erhoben werden, beobachtet sie, dass Alleingeburten vermehrt Thema sind, vor allem in den sozialen Medien.

Dabei dürfe nicht vergessen gehen, dass weltweit alle zwei Minuten eine Frau an Komplikationen aufgrund einer Schwangerschaft oder Geburt sterbe. Stocker bezieht sich auf Zahlen der Welt­gesund­heits­organisation WHO: «Grundsätzlich ist die Müttersterblichkeit dort tiefer, wo medizinische Betreuung und geburtshilfliche Versorgung gewährleistet sind.»

Schwangere Frau steht vor dem Fenster
Legende: Keine Zahlen zu Alleingeburten Zahlen zu Alleingeburten werden nicht erfasst. Hebamme Barbara Stocker findet es dennoch wichtig, hinzuschauen – und zu fragen, warum sich Schwangere von der medizinischen Geburtshilfe abwenden. stocksy/Hilary Walker

Auch wenn wenige Frauen eine Alleingeburt planen, findet Stocker es wichtig, hinzuschauen – und zu fragen, warum die medizinische Geburtshilfe für diese Frauen nicht stimmt.

Hebammen am Limit?

In den Schweizer Geburtskliniken laufe nicht alles nur rund. Der Hebammenverband macht seit Längerem darauf aufmerksam, dass es in der Geburtshilfe an Personal fehle und deswegen nicht immer genügend Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse genommen werden könne.

Traumatische Geburtserlebnisse

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Traumatische Erlebnisse bei der Geburt kommen oftmals zur Sprache, wenn Frauen ihre Motive für eine geplante Alleingeburt erläutern.

Viele Fachpersonen wie Hebamme Barbara Stocker und Gynäkologe Wener Stadlmayr setzen sich für eine selbstbestimmte und interventionsarme Geburt ein. Dass es zu traumatischen Geburtserlebnissen kommen könne, sei aber auch in der Schweiz Realität.

Bei einer Befragung der Berner Fachhochschule von 6000 Frauen gab mehr als jede vierte an, unter der Geburt informellen Zwang erlebt zu haben. Sie fühlten sich einseitig informiert, unter Druck gesetzt, eingeschüchtert oder waren mit einer Behandlungsentscheidung nicht einverstanden. Jede zehnte Befragte berichtete, dass sich Fachpersonen ihr gegenüber beleidigend oder abwertend äusserten. 

«Die Betreuung ist sehr fragmentiert, es sind viele Menschen involviert, der Personalbestand ist knapp bemessen», so Stocker. Dass es zu traumatischen Geburtserfahrungen komme und sich Frauen auch deswegen abwendeten, müsse ernst genommen werden, sagt Barbara Stocker.

Birthkeeper unterstützen Alleingeburten

Auf den vielen Instagram-Profilen, Youtube-Kanälen und in Podcasts der Freebirth-Community wimmelt es von positiven Geburtsberichten und Berichten über heilende Geburtserfahrungen.

Neugeborenes Kind in den Armen einer Frau
Legende: Positive Berichte über Alleingeburten Freebirtherinnen transportieren in Podcasts, auf Instagram-Profilen und Youtube-Kanälen oftmals ein strahlendes Image der Do-it-yourself-Geburt. Stocksy/Melissa Milis Photography

Und es wird nicht nur ein strahlendes Image der Alleingeburt transportiert, sondern auch Geld daran verdient: Im Netz finden sich Angebote für Coachings für Alleingeburten oder sogenannte Birthkeeper-Ausbildungen. Birthkeeper unterstützen Frauen bei Alleingeburten und wollen ihr eigenes Wissen weitergeben. Auch Rahel Betschart absolviert einen mehrmonatigen Birthkeeper-Onlinekurs.

Geburtshilfe in der rechtlichen Grauzone

Es handelt sich dabei nicht um eine medizinische Ausbildung. Birthkeeper ist kein geschützter Titel und nicht ins Gesetz der Gesundheitsberufe integriert. Anders als beispielsweise bei Doulas, gibt es auch keinen Ehrenkodex.

Doulas: Nicht-medizinische Geburtshilfe

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Doulas sind nicht-medizinische Geburtsbegleiterinnen und unterschreiben in der Regel einen Ehrenkodex ihres Verbands, der sie dazu verpflichtet, Geburten nur in Anwesenheit einer Hebamme zu begleiten und auf die Begleitung von Alleingeburten zu verzichten.

Mélanie Levy, Gesundheitsrechtsexpertin und Co-Direktorin des Instituts für Gesundheitsrecht in Neuenburg, findet das Unterstützen von Alleingeburten durch Birthkeeperinnen aus rechtlicher Sicht problematisch. Es sei unklar, wie solche Geburtsbetreuerinnen haftbar gemacht werden sollten, falls bei einer Geburt etwas passiert.

Birthkeeperinnen begeben sich in eine rechtliche Grauzone.
Autor: Mélanie Levy Gesundheitsrechtsexpertin

Auch darum, weil Alleingeburten nicht dokumentiert würden. «Birthkeeperinnen begeben sich in eine rechtliche Grauzone», so Levy.

Um die 5000 Euro kostet eine Ausbildung zur Birthkeeperin. So wird es auf Webseiten von Frauen beworben, die solche Ausbildungen anbieten. Viel Geld, findet Hebamme Barbara Stocker: «In der Schweiz wird die ganze Mutterschaft abgegolten, die Leistungen von Hebammen werden übernommen. Ich finde solche Angebote auch deshalb problematisch, weil sie aus finanziellen Gründen nicht allen Frauen offenstehen.»

In der Freebirth-Bubble

Stockers Bedenken dürften bei den überzeugten Anhängerinnen der Freebirth-Bewegung, die sich aus den vermeintlichen Zwängen des Systems befreien wollen, kein Gehör finden. Manche bezeichnen die Geburt als «Akt des zivilen Ungehorsams» – also als Form des Protests, die auf einen bewussten Verstoss gegen die Regeln einer Gesellschaft abzielt. Sie meinen damit ihre eigene Abgrenzung vom staatlichen Gesundheitswesen. Die Bewegung hat einen politischen, aber auch einen spirituellen Touch.

Collage Podcastvisuals über Alleingeburten
Legende: Freebirth-Bubble In vielen Podcasts erzählen Frauen und Paare von ihren Alleingeburten – meist werden positive Erlebnisse geschildert. SRF

Doch wie frei entscheidet eine Frau wirklich, wenn sie vielleicht nur noch mit der Sichtweise konfrontiert ist, dass einzig die Alleingeburt eine selbstbestimmte Geburt sein kann? «Ich denke, man wird beeinflusst, vielleicht zum Teil auch unter Druck gesetzt», vermutet Barbara Stocker. Die Freebirtherinnen, mit denen SRF-Journalistin Ledergerber sprechen konnte, verneinen. Sie erleben den Austausch mit ihrer Community und die zunehmende Vernetzung von Freebirth-Anhängerinnen als positiv und bereichernd.

SRF-Podcastserie «Das Birthkeeper System»

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Legende: News Plus Hintergründe Aufwändig recherchierte Geschichten, die so noch nicht erzählt wurden und in der Schweiz zu reden geben. SRF

In einer vierteiligen Doku-Serie spricht SRF-Journalistin Vanessa Ledergerber mit Frauen, die sich für eine Alleingeburt entschieden haben und fragt sie, warum sie dem medizinischen Gesundheitssystem den Rücken kehren. Bei ihren Recherchen stösst sie auf Freebirtherinnen, die sich miteinander vernetzen und einander bestärken. Unter den Anhängerinnen der Bewegung gibt es aber auch radikale Vertreterinnen.

SRF 4 News, 1.7.2024, 08:17 Uhr

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