Das Video einer deutschen Freebirtherin wurde über 250'000 Mal angeschaut und löste heftige Diskussionen aus. Weltweit wurde über die Frau berichtet, die ihr Kind ganz alleine im Meer am Strand von Nicaragua zur Welt brachte und sich dabei filmen liess.
Doch beim Freebirthing geht es um mehr als um einen Internethype. Dahinter steckt eine Bewegung mit teilweise radikalen Zügen, die auch Anhängerinnen in der Schweiz hat. In einem Land, das sich eines der teuersten Gesundheitssysteme weltweit leistet.
Gründe für eine geplante Alleingeburt
SRF-Journalistin Vanessa Ledergerber hat für die Podcastserie «Das Birthkeeper System» mit Schweizerinnen gesprochen, die sich für eine Alleingeburt entschieden haben. Ihre Beweggründe sind unterschiedlich: Für Sue Strack zum Beispiel war von Anfang an klar, dass sie die alleinige Verantwortung für ihre Geburt tragen möchte. Sie verzichtete während der Schwangerschaft auf jegliche Voruntersuchungen und brachte im Mai ihre Tochter auf eigene Faust zur Welt.
Schon ihr erstes Kind wollte die 31-Jährige ohne medizinische Hilfe gebären, doch die Geburt endete mit einem Not-Kaiserschnitt im Spital. Das Erlebnis habe sie traumatisiert, so Strack. Sie fühle sich am sichersten mit einer geplanten Alleingeburt.
Sue Strack tauscht sich regelmässig mit anderen Freebirtherinnen aus: «Für mich ist es wertvoll, sich mit Leuten zu umgeben, die in eine ähnliche Richtung gehen und die einander ermutigen.»
Eine Geburt im Auto als Schlüsselereignis
Auch Rahel Betschart ist Teil der Freebirth-Community. Die 36-Jährige hat sechs Kinder, das letzte hat sie alleine bei sich Zuhause zur Welt gebracht, obwohl ihr ihre frühere Hebamme davon abgeraten habe. Dass es für sie so aber richtig sei, habe ihr eine vorangegangene, ungeplante Alleingeburt im Auto gezeigt: «Ein Wahnsinnserlebnis für mich, dass ich das ohne Hilfe geschafft habe. Ich merkte: Die Geburt an sich kann dir ja sowieso niemand abnehmen.» Sie sei eine Person, die die Führung abgebe, sobald Fachleute anwesend seien.
In der sogenannten «Freebirth Society» herrscht verbreitet die Haltung, dass eine selbstbestimmte Geburt in einem Spital oder in Anwesenheit von medizinischem Fachpersonal nicht möglich ist und dass es zwangsläufig zu Interventionen und Übergriffen käme.
Entscheidung aus Ohnmachtsgefühl?
«Das entspricht nicht meiner Erfahrung», entgegnet der langjährige Gynäkologe und Geburtshelfer Werner Stadlmayr. Auch in einem Spital sei es möglich, eine natürliche Geburt zu erleben, bei der auf die Bedürfnisse der Frau Rücksicht genommen werde.
Das System ist nicht so beinhart, wie manche vielleicht denken.
Er glaubt, dass sich Frauen aus einem Ohnmachtsgefühl gegenüber dem System für eine Alleingeburt entscheiden würden: «Doch das System ist nicht so beinhart, wie manche vielleicht denken.»
Stadlmayr sagt aber auch: «Wenn eine Frau sich bei einer Spitalgeburt nicht mehr selber spüren kann, weil sie strikten Regelungen unterworfen ist, weil sie immer einen Tropf bekommt und man ihr die Fruchtblase öffnet, dann ist das gefährlich. Das läuft heute hoffentlich nicht mehr so.»
Zentral sei, dass in jeder Situation adäquat gehandelt werden könne, so Stadlmayr. «Dass man auch bei einer Hausgeburt zum richtigen Zeitpunkt entscheiden kann, wenn eine Frau doch noch besser in ein Spital sollte.»
Oberste Hebamme rät von Alleingeburt ab
Von Alleingeburten rät Werner Stadlmayr ab, wie auch sein Berufsverband, die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Auch Barbara Stocker, die Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands, hält fest: «Ich würde jeder Frau raten, sich bei der Geburt zumindest von einer Hebamme betreuen zu lassen. Auch wenn diese vielleicht gar nichts tun muss – sie ist der Fallschirm, wenn etwas schiefgeht und kann medizinische Erstmassnahmen treffen.»
Stocker prognostizierte schon 2018, dass Alleingeburten zunehmen könnten. Obwohl keine Zahlen dazu erhoben werden, beobachtet sie, dass Alleingeburten vermehrt Thema sind, vor allem in den sozialen Medien.
Dabei dürfe nicht vergessen gehen, dass weltweit alle zwei Minuten eine Frau an Komplikationen aufgrund einer Schwangerschaft oder Geburt sterbe. Stocker bezieht sich auf Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO: «Grundsätzlich ist die Müttersterblichkeit dort tiefer, wo medizinische Betreuung und geburtshilfliche Versorgung gewährleistet sind.»
Auch wenn wenige Frauen eine Alleingeburt planen, findet Stocker es wichtig, hinzuschauen – und zu fragen, warum die medizinische Geburtshilfe für diese Frauen nicht stimmt.
Hebammen am Limit?
In den Schweizer Geburtskliniken laufe nicht alles nur rund. Der Hebammenverband macht seit Längerem darauf aufmerksam, dass es in der Geburtshilfe an Personal fehle und deswegen nicht immer genügend Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse genommen werden könne.
«Die Betreuung ist sehr fragmentiert, es sind viele Menschen involviert, der Personalbestand ist knapp bemessen», so Stocker. Dass es zu traumatischen Geburtserfahrungen komme und sich Frauen auch deswegen abwendeten, müsse ernst genommen werden, sagt Barbara Stocker.
Birthkeeper unterstützen Alleingeburten
Auf den vielen Instagram-Profilen, Youtube-Kanälen und in Podcasts der Freebirth-Community wimmelt es von positiven Geburtsberichten und Berichten über heilende Geburtserfahrungen.
Und es wird nicht nur ein strahlendes Image der Alleingeburt transportiert, sondern auch Geld daran verdient: Im Netz finden sich Angebote für Coachings für Alleingeburten oder sogenannte Birthkeeper-Ausbildungen. Birthkeeper unterstützen Frauen bei Alleingeburten und wollen ihr eigenes Wissen weitergeben. Auch Rahel Betschart absolviert einen mehrmonatigen Birthkeeper-Onlinekurs.
Geburtshilfe in der rechtlichen Grauzone
Es handelt sich dabei nicht um eine medizinische Ausbildung. Birthkeeper ist kein geschützter Titel und nicht ins Gesetz der Gesundheitsberufe integriert. Anders als beispielsweise bei Doulas, gibt es auch keinen Ehrenkodex.
Mélanie Levy, Gesundheitsrechtsexpertin und Co-Direktorin des Instituts für Gesundheitsrecht in Neuenburg, findet das Unterstützen von Alleingeburten durch Birthkeeperinnen aus rechtlicher Sicht problematisch. Es sei unklar, wie solche Geburtsbetreuerinnen haftbar gemacht werden sollten, falls bei einer Geburt etwas passiert.
Birthkeeperinnen begeben sich in eine rechtliche Grauzone.
Auch darum, weil Alleingeburten nicht dokumentiert würden. «Birthkeeperinnen begeben sich in eine rechtliche Grauzone», so Levy.
Um die 5000 Euro kostet eine Ausbildung zur Birthkeeperin. So wird es auf Webseiten von Frauen beworben, die solche Ausbildungen anbieten. Viel Geld, findet Hebamme Barbara Stocker: «In der Schweiz wird die ganze Mutterschaft abgegolten, die Leistungen von Hebammen werden übernommen. Ich finde solche Angebote auch deshalb problematisch, weil sie aus finanziellen Gründen nicht allen Frauen offenstehen.»
In der Freebirth-Bubble
Stockers Bedenken dürften bei den überzeugten Anhängerinnen der Freebirth-Bewegung, die sich aus den vermeintlichen Zwängen des Systems befreien wollen, kein Gehör finden. Manche bezeichnen die Geburt als «Akt des zivilen Ungehorsams» – also als Form des Protests, die auf einen bewussten Verstoss gegen die Regeln einer Gesellschaft abzielt. Sie meinen damit ihre eigene Abgrenzung vom staatlichen Gesundheitswesen. Die Bewegung hat einen politischen, aber auch einen spirituellen Touch.
Doch wie frei entscheidet eine Frau wirklich, wenn sie vielleicht nur noch mit der Sichtweise konfrontiert ist, dass einzig die Alleingeburt eine selbstbestimmte Geburt sein kann? «Ich denke, man wird beeinflusst, vielleicht zum Teil auch unter Druck gesetzt», vermutet Barbara Stocker. Die Freebirtherinnen, mit denen SRF-Journalistin Ledergerber sprechen konnte, verneinen. Sie erleben den Austausch mit ihrer Community und die zunehmende Vernetzung von Freebirth-Anhängerinnen als positiv und bereichernd.