Türkis das Meer, weiss der Sand, grün der Regenwald: Sabrina Sigg ist in Thailand, auf einer kleinen Ferieninsel. Und jetzt kommt Nikita. Sie bringt den Jungen am frühen Morgen zur Welt – die Geburt reisst Thailänder wie Touristen aus dem Schlaf. «Ich habe ihn auf dem WC bekommen. Und in Thailand hat es keine Fensterscheiben auf dem WC, nur Gitter», erzählt sie. «Ich war nicht so leise, die haben alles gehört. Es war etwa morgens um vier.»
Heute, sechs Monate später, sitzt Sabrina Sigg mit Nikita in einem Café in Zürich. Blond und blauäugig ist die Mama – der Bub hat dunkle Haare und Augen. Solche Überraschungen gibt es oft. Nikitas Geburt aber war keine. Sie war so geplant; allein, ohne Hebamme, ohne Ärztin, im Ferienhaus.
«Wir hatten eine Kakerlake auf dem WC. Die war immer da, jeden Tag», fährt sie fort. Ihr Mann habe sie zum Glück am Tag vor der Geburt getötet. «Ich wollte nicht, dass beim Gebären noch eine Kakerlake dort herumrennt.»
Auch Verzicht auf Vorsorgeuntersuchungen
Sabrina Sigg ist selbstständige Unternehmerin, reist viel mit ihrem Mann. Nikita ist ihr viertes Kind. Den ersten Sohn bringt sie in einem Geburtshaus zur Welt. Dort stehen nur Hebammen den Frauen bei. Die Kinder Nummer zwei und drei werden in der Schweiz zu Hause geboren, auch ohne Hilfe. «Bei der zweiten und vor allem dritten Geburt habe ich das überhaupt nicht als schmerzhaft erlebt. Im Gegenteil, es hatte etwas unglaublich Lustvolles.»
Nikita, die Nummer vier, kommt nicht nur weit weg und ohne Hilfe zur Welt. Während der Schwangerschaft gibt es auch keine Untersuchungen, keinen Ultraschall, nichts. «Das erlebte ich als extrem schön. Du weisst nicht, ob es ein Bub oder ein Mädchen ist, auch sonst weisst du praktisch nichts», so Sigg.
Die zweite und vor allem die dritte Geburt habe ich überhaupt nicht als schmerzhaft erlebt. Im Gegenteil.
Eines aber weiss sie: Sie vertraut ihrem Körper und ihrem Kind. Und nur wenn sie allein sei, nicht gestört werde, sagt Sigg, könne sie sich ganz hingeben, die Angst überwinden, Verantwortung und Kontrolle übernehmen.
Immer mehr einschlägige Foren im Netz
Sie ist nicht die einzige. Im Internet wimmelt es sei kurzem von Diskussionsforen für Frauen, die ganz allein gebären wollen. Einige dieser Foren haben mehrere Tausend Mitglieder. In letzter Zeit sind Bücher zum Thema Alleingeburt erschienen. Es gibt auch Videos mit Anleitungen, etwa von einer deutschen Ärztin, die sechs Kinder alleine zur Welt gebracht hat.
Zahlen dazu, wie viele Frauen tatsächlich allein gebären, gibt es nicht. Natürlich sind Alleingeburten ein Randphänomen. Aber das könnte sich ändern, sagt Barbara Stocker, Präsidentin des Hebammenverbands: «Es kann sein, dass sie zunehmen. Es ist ein Thema, vor allem in den sozialen Medien.»
Doch warum interessieren sich mehr Frauen für diese Art des Gebärens, obwohl sie doch heute jede erdenkliche medizinische Unterstützung haben können? Eben gerade deshalb, sagt Stocker. Die Medizin wolle immer noch mehr Sicherheit bieten. Die Folge sei ein immer engeres Korsett für Frauen, die natürlich gebären möchten. Wenn das Kind zum Beispiel etwas länger im Bauch bleibe als berechnet, greife der Arzt heute sehr schnell ein.
Strenge Vorschriften für natürliche Geburten
Es gebe inzwischen etliche strenge, unnötige Vorschriften für natürliche Geburten, so Stocker: «Das macht Probleme und fördert, dass die Frau ins Spital muss. Wenn sie das zum Beispiel überhaupt nicht will, steht ihr offen, was sie macht. Und dann könnte es sein, dass sie sagt, sie mache es allein.»
Denn viele Frauen wünschten sich eine natürliche Geburt – auch oder gerade heute. Die Hebammen könnten die Wünsche der Frauen oft nicht erfüllen. Denn sie müssten sich an die medizinischen Vorgaben halten, sonst machten sie sich strafbar. Irene Hösli, Cheffrauenärztin am Universitätsspital Basel, sagt: «Ich sehe das von einer anderen Seite. Man muss sich einfach anschauen, wie unsere Schwangeren heute aussehen, was sie mitbringen.»
Mythen ranken sich um Geburten im Spital
Viele Schwangere heute seien eher 40 als 20 Jahre alt – natürlich klappe es in dem Alter oft nicht mit der ersehnten natürlichen Geburt. Und sie betont: Die Richtlinien für natürliche Geburten würden auch deshalb strenger, weil man heute viel mehr wisse als früher: «Wir sagen nicht einfach aus dem hohlen Bauch heraus, wir schränken mehr ein, sondern wir haben auch wirklich mehr fundierte Daten, die wir in die Beratung einfliessen lassen können.»
Ich halte Alleingeburten für gefährlich. Ich würde das nicht empfehlen.
Daneben gebe es auch viele Mythen rund um Geburten im Spital, sagt Hösli.
Auch dort versuche man heute, wenn immer möglich nicht einzugreifen. Auch dort könne man mancherorts nur mit einer Hebamme gebären – ohne Arzt.
Risiko, dass das Kind bei der Geburt stirbt
Ärztin und Hebamme sind sich in einem Punkt einig, nämlich wenn es um die Risiken einer Alleingeburt geht: «Auf sich allein gestellt kann das zu einem grossen Risiko für sie und ihr Kind werden», sagt Hösli. Und auch Stocker findet: «Ich halte das für gefährlich. Ich würde es nicht empfehlen.»
Verantwortungslos sei sie nicht, sagt Sabrina Sigg, die dreimal alleine geboren hat. «Ich habe das Gefühl, wenn ich ins Spital ginge, mit dem was ich über mich selbst weiss, wäre das viel verantwortungsloser.» Sie habe nichts Illegales getan. Natürlich habe sie gewusst: Wenn das Kind einen schweren Herzfehler hat, stirbt es. Aber dieses Risiko sei so klein, dass sie es in Kauf genommen habe. Sie wolle, was alle Eltern wollten: das Beste für ihre Kinder.