20 Minuten Aktivität stehen Dejan Lauber (30) jeden Tag zur Verfügung. Er kann sie einsetzen zum Duschen, zum Basteln, für das Schreiben einer Nachricht oder ein kurzes Gespräch mit seinem Vater, der ihm einmal pro Woche Lebensmittel vorbeibringt. Danach sind Dejan Laubers Batterien leer.
Diese Krankheit ist ein so unsägliches Leiden – ich kann es gar nicht in Worte fassen.
Hält er sich nicht absolut konsequent an diese Vorgabe – Pacing genannt – bestraft ihn sein Körper tags darauf mit schier unerträglichen Symptomen: Muskelschmerzen, Kreislaufbeschwerden, «Brain Fog» und eine unvorstellbare Erschöpfung. Dejan Lauber leidet an ME/CFS, (Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom).
«Diese Krankheit ist ein so unsägliches Leiden – ich kann es gar nicht in Worte fassen», sagt Dejan Lauber, der früher ein aktiver und unternehmungslustiger Mensch war. Heute kann er seine Zweizimmerwohnung in Heimberg nicht mehr verlassen, ist bettlägerig und auch in der Wohnung auf seinen Rollstuhl angewiesen.
ME/CFS ist schwierig zu diagnostizieren, die über 200 möglichen Symptome von ME/CFS sind sehr diffus. In der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten ist die Krankheit, die oft nach einem viralen Infekt (beispielsweise Grippe oder Pfeiffersches Drüsenfieber) ausbricht, kaum ein Thema.
Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, ist – neben den unerträglichen Symptomen – das Schlimmste an der Krankheit.
Anlaufstellen und Spezialisten für Betroffene fehlen. Als Folge davon reisen ME/CFS-Betroffene meist Jahre lang von Praxis zu Praxis und werden von Ärzten und Ärztinnen sowie Sozialversicherungen nicht ernst genommen.
Denn nach wie vor wird die neuroimmunologische Multisystemerkrankung fälschlicherweise als psychosomatisches Leiden eingestuft, obwohl die WHO ME/CFS schon 1969 als neurologische Krankheit klassifiziert hatte.
Diese Erfahrung musste auch Cassandra Helfer (29) aus Thun machen. «Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, ist – neben den unerträglichen Symptomen – das Schlimmste an der Krankheit.»
Gut gemeinte Ratschläge von Ärzten und Angehörigen – «Geh doch ein bisschen an die frische Luft!» – seien wie Ohrfeigen für Betroffene wie sie, sagt Cassandra Helfer. «Wenn ich könnte, würde ich rennen, arbeiten, heiraten und Kinder bekommen. Aber ich kann nicht.»
Auch die Invalidenversicherung hat Cassandra Helfers Leiden nicht ernst genommen und ihr Rentengesuch abgelehnt. Vor zwei Jahren musste die Fachfrau Gesundheit ihren Beruf aufgeben – sie war dem harten Alltag in der Pflege nicht mehr gewachsen.
Cassandra Helfer lebt heute von der Sozialhilfe. Ihren Elektrorollstuhl, mit dem sie ab und zu noch das Haus verlassen kann, musste sie – unterstützt von ihrem Partner, Freunden und Familie – selbst finanzieren.
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Die IV-Stellen in der Schweiz könnten in Zukunft mit noch viel mehr Rentengesuchen konfrontiert werden. Denn die Symptome von ME/CFS und Long Covid gleichen sich frappant. Der Wiener Neurologe Michael Stingl geht davon aus, dass ME/CFS die chronische Form von Long Covid ist.
Dass man sich nach einer Covid-Erkrankung noch Wochen oder Monate lang schlecht fühle, an postviraler Fatigue, Kreislaufproblemen und der Verschlechterung der Symptome nach Überanstrengung leide, sei normal. «Wenn die Symptome aber über ein Jahr lang andauern, dann würde ich schon sehr klar sagen: Das ist ME/CFS», sagt Stingl. Ersten Schätzungen zufolge könnte dies auf ein bis zwei Prozent aller Covid-19-Erkrankten betreffen.