«Wenn ich einen guten Tag habe und mich wohl fühle, dann mache ich morgens etwas Yoga und am Nachmittag einen Spaziergang.» Mehr schafft Selina Rutz-Büchel noch nicht. Die 30-jährige Spitzensportlerin und mehrfache Europameisterin im 800-Meter-Lauf trainierte seit ihrem 15. Lebensjahr mehrmals täglich. Nun muss sie ganz auf das Training verzichten.
Selina Rutz-Büchel hat sich Anfang April 2021 mit dem Coronavirus angesteckt. Ihr Krankheitsverlauf war sehr mild. Etwas erkältet sei sie gewesen, so richtig krank habe sie sich nur an einem Tag gefühlt. Nach einem Gesundheitscheck hat sie ihr Training zwei Wochen nach ihrer Infektion wieder aufgenommen, ganz sachte.
Der Traum Olympische Spiele - geplatzt
«Alles ging gut und hat sich gut angefühlt», sagt Selina Rutz-Büchel. Deshalb habe sie einen Zacken zugelegt und ein erstes Krafttraining eingebaut. Doch das habe sie «total geschlissen». Was darauf folgte, war ein Rückfall: Totale Erschöpfung, Hals- und Kopfschmerzen und Schwindel.
Eigentlich wollte Selina Rutz-Büchel an den Olympischen Spielen in Tokyo starten. Fünf Jahre lang hat sie sich darauf vorbereitet. Nach mehreren neuen Anläufen und stetigen Rückfällen musste sie diesen Traum aber aufgeben. Das Training hat sie ganz eingestellt.
«Dass der Traum von Tokyo geplatzt ist, ist das eine. Aber das tägliche Training ist ein Teil von mir, es fehlt mir.» Damit hadert die Spitzensportlerin bis heute.
Ob sich alle von Long Covid erholen, weiss niemand
So wie Selina Rutz-Büchel geht es in der Schweiz etwa 200'000 Menschen. Das zeigen Schätzungen der Science Task Force und Studien.
Fast alle waren vor ihrer Infektion gesund, viele haben regelmässig Sport getrieben. «Es kann alle treffen, die sich mit dem Coronavirus infizieren, unabhängig vom Grad der Fitness, unabhängig vom Alter und vor allem unabhängig vom Schweregrad der Infektion», sagt Milo Puhan. Der Epidemiologe an der Universität Zürich leitet die Zürcher Coronavirus-Kohortenstudie und koordiniert das Forschungsprogramm «Corona Immunitas».
Im Rahmen dieses Programms werden regelmässig etwa 50'000 Patientinnen und Patienten befragt und untersucht. Zudem hat Milo Puhan für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 70 Studien aus der ganzen Welt zusammengetragen.
Es wird Menschen geben, die längerfristig leiden werden.
Trotz der vielen Daten ist heute noch vieles unbekannt. Die Forschung über Long Covid steckt noch immer erst in den Anfängen. Ob alle Long-Covid-Patientinnen und -Patienten wieder gesund werden, weiss Milo Puhan nicht. «Es wird Menschen geben, die längerfristig leiden werden», sagt Puhan. Viele aber würden sich wieder erholen, ist der Epidemiologe überzeugt.
Vielleicht gibt es mal Medikamente
Heute bestehe die Hoffnung, so Milo Puhan, dass gewisse Therapien den Verlauf von Long Covid mildern können. Und vielleicht gebe es irgendwann mal auch Medikamente, die helfen.
Auf solche Medikamente hofft Chantal Britt. Sie leidet bereits seit der ersten Welle der Pandemie, also seit anderthalb Jahren, an Long Covid. Sie war eine der ersten Patientinnen, die in der Öffentlichkeit über ihre Krankheit sprach. «Wir haben Angst, dass die Symptome chronisch werden und wir das ganze Leben unter Long Covid leiden werden», fürchtet Chantal Britt.
Um den Betroffenen eine Stimme zu geben, hat sie im März 2021 den Verein «Long Covid Schweiz» mitgegründet. Dieser hat eine Umfrage unter 400 Betroffenen durchgeführt.
Die Umfrage zeigt, dass nicht ganz die Hälfte der Betroffenen wieder arbeiten können. 28 Prozent mussten ihr Pensum dauerhaft reduzieren und 20 Prozent sind ganz arbeitsunfähig.
Es braucht mehr Geld für die Forschung
Die vielen laufenden Studien und Programme zu Long Covid werden heute von Stiftungen, teilweise von den Universitäten selber und von einzelnen Kantonen finanziert. Einen Teil unterstützt das BAG. Vom Schweizerischen Nationalfonds gibt es zurzeit aber noch keine Forschungsgelder für Long Covid. Deshalb fordert der Verein «Long Covid Schweiz» in einem offenen Brief an den Bundesrat, dass ein Forschungsfonds für Long Covid errichtet wird.
«Wir dürfen die betroffenen Menschen nicht im Stich lassen, sie brauchen so schnell wie möglich Hilfe und verlässliche, zugelassene Medikamente», fordert Chantal Britt. Sie beteiligt sich auch an den Programmen von Milo Puhan an der Universität Zürich. Kürzlich habe auch das BAG Interesse an einer Zusammenarbeit gezeigt, freut sich Britt.
Ich glaube daran, der Körper heilt alles.
Derweilen zeigt sich Selina Rutz-Büchel zuversichtlich. Sie brauche jetzt viel Geduld, damit sie im Alltag wieder klarkomme. Aber sie glaube an eine Genesung: «Ich glaube daran, dass der Körper alles heilen kann.»
Selina Rutz-Büchel lässt sich nicht unterkriegen. Ihr Ziel ist die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2024 in Paris.
Ob das klappt? Sie wisse es nicht, sagt Rutz-Büchel. «Ich glaube, alles im Leben passiert zum richtigen Zeitpunkt», meint die Spitzensportlerin und ergänzt: «Ich bin mir auch bewusst, dass Sport nicht alles ist im Leben».