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Ein Leben lang bestraft – Das Leiden der administrativ versorgten Ursula Biondi
Aus Reporter vom 21.02.2016.
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SRF DOK «Man kann das Erlebte nicht ungeschehen machen»

Ursula Biondi landete mit 17 Jahren ohne Gerichtsentscheid im Gefängnis. Grund: ledig schwanger. Sie erlitt fürsorgerische Zwangsmassnahmen – wie viele Junge von 1942 bis 1981. In einem persönlichen Text schreibt sie über den Preis, den sie als Pionierin für eine freiere Gesellschaft bezahlte.

Ich, Ursula Biondi, wurde 1966 mit 17 Jahren wegen Liebe und Schwangerschaft ins Frauengefängnis Hindelbank eingesperrt. Ich wurde «versorgt». In den Zellen neben mir lebten Mörderinnen – auf dem täglichen Spaziergang im Innenhof und am Arbeitsplatz traf ich auf verurteilte Straftäterinnen. Ich war im Gefängnis, obschon ich nie von einem Gericht verurteilt wurde.

Mein einziges Vergehen war, dass ich jung war, leidenschaftlich, ich begehrte auf. Zu guter Letzt erwartete ich ein Baby von meiner grossen Liebe ohne verheiratet zu sein. Also wollte mich der Staat «nacherziehen».

Frauengefängnis Hindelbank
Legende: Frauen, die nicht der gängigen Moral entsprachen, wurden im Frauengefängnis Hindelbank «versorgt». Keystone

Zum «Schutz» im Gefängnis

Viele von uns «administrativ versorgten» Menschen erlebten bereits in ihrer Kindheit unvorstellbare körperliche und seelische Gewalt: körperliche Züchtigung, Isolation und sexuellen Missbrauch. In Heimen, auf Bauernhöfen, in Pflegefamilien, als Aupair – oder sogar in den eigenen Familien. Schliesslich endeten wir zu unserem «Schutz» in Erziehungsanstalten, die vielmals Gefängnisse waren und in denen wir oft auf unbestimmte Zeit eingesperrt blieben.

Tausende von Zwangsadoptionen, Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen begleiten dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte. Der SRF-Spielfilm «Lina» widmet sich diesem bitteren Thema. Der Film rüttelt auf und regt zum Nachdenken an.

Spielfilm «Lina»

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Viele Junge mussten von 1942 bis 1981 fürsorgerische Zwangsmassnahmen erleiden. Dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte zeigt der SRF-Fernsehfilm «Lina»: Sonntag, 21. Februar 2016, 20:05 Uhr, SRF1.

Von 1942 bis 1981 konnten junge Menschen ohne Anhörung, ohne Gerichtsentscheid, weggesperrt werden. Nur weil sie sich den gängigen Moralvorstellungen widersetzten. Uns wurden Schicksale aufgezwungen in einem hinterlistigen Zweiklassensystem geprägt von Vetterliwirtschaft und Bünzlitum.

Ernüchternd ist, dass es noch im Jahr 2003 in Zürich Personen gab, die mich übel mobbten und damit verhindern wollten, dass diese Verbrechen aufgedeckt werden, obschon sie genau wussten, dass es die administrative Versorgung 1942 bis 1981 gegeben hatte. Erst durch die offizielle Entschuldigung des Staates am 10. September 2010 im Schloss Hindelbank hörte dieses Mobbing auf.

Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und die ehemals administrativ Versorgten Maria Ischer, Ursula Biondi und Gina Rubeli-Eigenmann (v. l.).
Legende: Eveline Widmer-Schlumpf und ehemals administrativ Versorgte nach der offiziellen Entschuldigung im September 2010. Keystone

Jugendliche aus der Unterschicht wurden gebrochen, fügsam gemacht

Jugendliche aus der Oberschicht, die rebellierten oder sich nicht an die «Norm» hielten, wurden vielmals in Internate gesteckt und genossen dadurch eine ausgezeichnete Ausbildung, was wiederum ein angesehenes und erfolgreiches Leben bedeutete.

Jugendliche aus der Unterschicht wurden dagegen «administrativ versorgt», wenn sie gegen die restriktive und heuchlerische Moral rebellierten und sich nicht an die «Norm» hielten. Sie wurden gebrochen und fügsam gemacht, damit sie nicht mehr aufzumüpfen wagten und sich nach ihrer Entlassungen überall anpassten.

«Recht» wurde damals gebraucht, um Unrecht zu tun

Frühere Staatsangestellte (Anstalts- und Gefängnisleiter) und Vormunde haben viele Leben beeinträchtigt und zerstört. Im Allgemeinen wurden die Menschenrechte verletzt und den Betroffenen während ihrer Einschlusszeit jede Bildung verweigert, wodurch sie wertvolle Jahre verloren.

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«Der Staat muss handeln»
Aus DOK vom 21.02.2016.
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Wir wurden zur selben Arbeit wie die Verurteilten gezwungen, aber im Gegensatz zu ihnen mussten wir diese unentgeltlich leisten und unser Einschluss musste von unseren Angehörigen unter dem Titel «Pflegekosten» noch bezahlt werden. Die schrecklichen Erlebnisse in den Anstalten, in den Gefängnissen, die Isolation und die Entlassung ohne Resozialisierung führten bei vielen von uns zu Fehlanpassungen in der Gesellschaft und hatten massive Beeinträchtigungen der Lebenschancen und Entwicklungspotentiale zur Folge. Sie wirken über den Aufenthalt hinaus bis heute nach.

Ganze Familienstrukturen zerstört

Ich bin mir sicher, dass man die Öffentlichkeit über die damaligen, menschenunwürdigen Verhältnisse noch viel aktiver aufklären muss. Viele von uns haben sich während der Internierung, kurz danach oder auch später das Leben genommen. Zudem wurden ganze Familienstrukturen durch Zwangsadoptionen und Zwangssterilisationen zerstört.

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«Es ist eine Erlösung»
Aus DOK vom 21.02.2016.
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Geschah dies wirklich alles nur im Namen der Moral? Eine historische Aufarbeitung über die Selbstmordrate der «administrativ Versorgten» würde Erschreckendes zu Tage bringen.

Pioniere einer freieren Gesellschaft

Wir haben damals in einer restriktiven und heuchlerisch-moralischen Gesellschaft gelebt. Wir haben uns dagegen aufgelehnt, sind unseren eigenen Bedürfnissen und Gefühlen gefolgt und mussten dafür das eine oder andere bisherige Tabu brechen. In diesem Sinne sind wir Pioniere einer neuen, freieren Gesellschaft gewesen. Aber der Preis, den wir dafür zu bezahlen hatten, war sehr hoch!

Man kann das Erlebte nicht ungeschehen machen. Aber man kann dafür sorgen, dass es sich nicht wiederholt.
Autor: Ursula Biondi

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