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Mentale Gesundheit Psychische Probleme: Was hält eine Freundschaft aus?

In der Schweiz unterstützen 2.1 Millionen Menschen eine Person, die psychisch krank ist. Wie ist man am besten für die Betroffenen da? Und wie grenzt man sich ab? Drei Geschichten.

«Wenn es mir schlecht geht, möchte ich von niemandem etwas wissen», sagt Tosca. Die 19-Jährige kämpft seit Jahren mit Depressionen. Es gibt Tage, da liegt sie einfach nur in ihrem Bett, das Zimmer abgedunkelt. Dann ist es schwierig, an sie heranzukommen. Das weiss auch ihre beste Freundin Angelina. Die beiden haben sich vor sieben Jahren kennengelernt, als es Tosca noch gut ging. 

Ich weiss nicht, wie es für sie ist, wie sie sich fühlt.
Autor: Angelina Beste Freundin von Tosca

Kurz vor der Corona-Pandemie wurde Tosca depressiv. «Ich hatte Wutausbrüche und wusste nicht, wohin mit mir.» Sie verletzte sich selbst und wollte nicht mehr leben. Sie vertraute sich aber einer Lehrperson an, die gemerkt hatte, dass etwas mit Tosca nicht stimmt. Die Schule kontaktierte die Mutter. Es folgten Therapien, medikamentöse Behandlungen und zwei Klinikaufenthalte. Das zweite Mal wurde Tosca gegen ihren Willen eingewiesen.  

Es war eine harte Zeit, sagt Tosca. Hart war es auch für ihre Freundin Angelina. Sie musste lernen, sich von Tosca abzugrenzen. «Ich weiss nicht, wie es für sie ist, wie sie sich fühlt», erklärt Angelina, so sei es manchmal schwierig zu wissen, was ihre Freundin brauche.

Tosca und Angelina

Tosca auf der anderen Seite möchte Angelina vor ihren Gedanken schützen, erzählt ihr nicht alles. «Wenn ich merke, dass Angelina gestresst oder wütend ist, dann lasse ich es bleiben.» In diesen Situationen schreibt sie ihre Gedanken auf oder spricht mit ihrer Therapeutin. 

Nähe und Distanz

Es kann sehr belastend sein, wenn eine nahestehende Person depressiv oder suizidal ist. 2.1 Millionen Menschen in der Schweiz unterstützen jemanden mit psychischen Problemen. Das zeigt eine Sotomo-Studie aus dem Jahr 2024. Die Hälfte der Angehörigen sagt, sie hätten Angst um die betroffene Person oder würden sich Sorgen machen. Das kennt auch Angelina: «Das ist schwierig für mich. Zum einen möchte ich nah für Tosca da sein, zum anderen möchte ich ihr auch Raum geben, um zu atmen.»

Obwohl Angelina nicht immer versteht, was in Tosca vorgeht, versucht sie, sie aus ihrem Tief zu holen. Zum Beispiel mit einem Picknick-Ausflug oder einem Besuch an der Chilbi. Für Tosca ist es nicht immer einfach, sich aufzuraffen und das Haus zu verlassen. «Angelina weiss eigentlich, dass ich meine Ruhe haben möchte. Aber es ist schon gut für mich, nach draussen zu gehen», sagt sie zwischen Lebkuchenherzen und Riesenrad. 

Was, wenn beide betroffen sind? 

Cyril und Rolli kennen sich seit der Kindheit. Sie gingen zusammen in die Schule und haben sich dann aus den Augen verloren. Bis sie sich bei einem Klinikaufenthalt wieder trafen. Cyril hat mehrere Diagnosen, unter anderem ADHS, so wie Rolli auch. «Das ADHS ist der Freundschaft schon ein Dorn», sagt Rolli. So könne man mit ihm zum Beispiel nicht gut diskutieren, wenn er anderer Meinung sei. Dann reagiere er sehr impulsiv. 

Rolli und Cyril

Aber ADHS habe auch positive Seiten, etwa, wenn es darum gehe, gemeinsam etwas umzusetzen, so Rolli. Zusammen mit Cyril bereitet er einen Event in Brienz vor. Sie putzen Tische und dekorieren die Bar mit Palmwedeln aus Plastik. «Dann ist man voll fokussiert und will das Ziel erreichen», sagt Rolli. Cyril stimmt ihm zu.  

Zusammen lernen, mit den Problemen umzugehen 

Heute können die beiden Männer gut miteinander umgehen, früher seien sie bei Meinungsverschiedenheiten öfter aneinandergeraten, auch körperlich.«Das war ein Lehrstück, das mussten wir erst erkennen», erinnert sich Rolli. Auch Cyril hat gelernt, dass es nicht darum geht, wer mehr kann. «Es ist besser, wenn wir die Kräfte vereinen können.» 

Wir Männer sind schon eher verschlossene Leute. Aber da muss man über seinen Schatten springen.
Autor: Rolli Über seine Freundschaft mit Cyril

Über die Jahre haben sie auch die Fähigkeit entwickelt, frühzeitig zu erkennen, wenn es dem anderen schlecht geht. «Bei Cyril ist es die Stimmlage, er redet dann bedrückter», sagt Rolli über seinen Freund. «Dann weiss ich, dass ich etwas sensibler mit ihm umgehen muss.» Aber er lasse Cyril die Wahl, ob er mit seinen Problemen zu ihm kommen möchte oder nicht.  

Die beiden gehen heute offen mit ihren Problemen um. Auch wenn das nicht immer einfach ist: «Wir Männer sind schon eher verschlossene Leute. Aber da muss man über seinen Schatten springen», sagt Rolli. «Und dann merkt man, dass es einem megaguttut, darüber zu reden», ergänzt Cyril. Früher hätten sie sich nicht in den Arm nehmen können, heute schon. 

Ist geteiltes Leid doppeltes Leid? 

Freundschaften, in denen beide Personen psychische Probleme haben, können laut der Fachstelle Pro Mente Sana Herausforderungen mit sich bringen. Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zum Beispiel oder der richtige Umgang mit Konflikten. Es gibt jedoch auch positive Aspekte: Man muss sich nicht verstellen, da die andere Person nachvollziehen kann, was man erlebt, und eine Begegnung auf Augenhöhe wird möglich. 

Anlaufstellen für mentale Gesundheit

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Die Dargebotene Hand, anonym 24/7 
https://www.143.ch/  

Telefon 147: Für Kinder und Jugendliche  
https://www.147.ch/    
 
Suche nach Psycholog:innen 
https://www.psychologie.ch/de  

Diese Erfahrung hat auch Andrea gemacht. Vor knapp zehn Jahren, als sie 15 Jahre alt war, starb ihre damals beste Freundin. Eine grosse psychische Belastung, an der sie lange litt. Doch sie fand Trost bei einer anderen Freundin. Vera (Name geändert) konnte sie auffangen. Als es Andrea sehr schlecht ging, zog sie für eine Woche zu ihr. «Es war wie ein zweites Zuhause für mich.» 

Ich liebe Vera so, wie sie ist.
Autor: Andrea Beste Freundin von Vera

Umgekehrt braucht auch Vera Unterstützung. Sie leidet an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, hat mehrere Klinikaufenthalte hinter sich, vor Kurzem hat sie sich gegen einen Reha-Aufenthalt entschieden. «Das eng getaktete Angebot wäre momentan noch zu streng für mich», sagt sie. Erst hatte sie Angst, ihrer Freundin Andrea davon zu erzählen, doch diese unterstützt sie in ihrer Entscheidung: «Es ist ihr Leben, das sie selbst gestaltet.» 

Eine Freundschaft wie jede andere 

Beide Frauen machen eine Therapie und haben zusammen Strategien entwickelt, um auf ihre mentale Gesundheit achtzugeben. Etwa mit gemeinsamem Meditieren im Wald. Ein paar Minuten der Stille, welche verbinden. Stehen die psychischen Probleme im Mittelpunkt ihrer Freundschaft? 

Andrea und Vera

«Ich liebe Vera so, wie sie ist», sagt Andrea. «Deswegen habe ich nicht das Gefühl, dass die psychischen Probleme im Vordergrund stehen.» Es sei eine Freundschaft wie jede andere auch. Vera ergänzt, dass sie wegen ihrer eigenen Erfahrungen Andrea besser stützen konnte, als sie den Verlust ihrer Freundin verarbeitete. «Durch Vera habe ich genau diese Tiefe an Freundschaft wieder bekommen. Und das ist mega schön», sagt Andrea.

SRF 2, 9.12.2024, 22:30 Uhr

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