Leistungsfähig, unerschütterlich, erfolgreich: Wie ein Mann zu sein hat, wird oft von Stereotypen bestimmt. Auch der heute 28-jährige Profifussballer Francisco Rodriguez verfing sich in diesem Rollenbild. Bis seine Psyche nicht mehr mitmachte.
Steile Karriere, tiefer Fall
Schon in jungen Jahren wird ihm eine grosse Fussballer-Karriere vorausgesagt. Der Zürcher ist der jüngste von drei erfolgreichen Fussballer-Brüdern. Der Mittlere, Ricardo Rodriguez, ist der bekannteste: Er spielt seit 12 Jahren in der Schweizer Nati.
2014 gibt Francisco Rodriguez sein Profidebüt beim FC Zürich in der Super League. Ihm gehöre die Zukunft, sagen viele Beobachter damals. Seine Leistungen ziehen die Aufmerksamkeit anderer Clubs auf sich – auch in Deutschland.
Er spielt für den VfL Wolfsburg und Arminia Bielefeld. Später ist er für den FC Luzern und den FC Lugano im Einsatz. Er steht im Kader der Schweizer U-21-Nationalmannschaft. Und selbst die chilenische Nationalmannschaft umwirbt den Doppelbürger. Alles Anzeichen für eine erfolgreiche Karriere als Profi-Sportler.
Dann der Schock für den damals 20-Jährigen: 2015 stirbt Francisco Rodrigues' Mutter mit nur 47 Jahren. Ein schwerer Schlag für den Familienmensch. Doch er setzt seine Karriere fort.
Als er sich beim FC Lugano aber immer wieder verletzt, fällt er in eine Sinnkrise. «Das war dann irgendwann zu viel für mich. Ich konnte nicht damit umgehen», erzählt er. Francisco Rodriguez fällt in eine Depression.
Er verspürt Gefühle, die er nicht kennt und nicht einschätzen kann. Immer deutlicher merkt er, dass er sich nicht selbst aus diesem Tief befreien kann. Das zu akzeptieren fällt ihm schwer: «Als Mann, als Fussballer hat man immer das Gefühl, man könne alles selbst bewältigen.»
Gefährliche Rollenbilder
Eine gefährliche Selbstwahrnehmung, die Psychotherapeut Andreas Walther bei Männern häufig beobachtet. «Männer warten viel länger, bis sie sich Hilfe suchen. Teilweise ist es leider eben schon zu spät.»
Dieses stille Leiden und dieses traditionelle Rollenbild von Männern ist ein möglicher Grund, weshalb die Wahrscheinlichkeit eines Suizids drei- bis viermal so hoch ist wie bei Frauen.
Walther ist Oberassistent am Psychologischen Institut der Universität Zürich und erforscht gesellschaftliche und biologische Faktoren von Depressionen bei Männern.
Das Grundproblem: Weltweit leiden schätzungsweise fünf Prozent der Bevölkerung an Depressionen. Männer scheinen auf den ersten Blick weniger davon betroffen zu sein – die Diagnose wird bei Frauen fast doppelt so häufig gestellt. Doch diese Statistik trügt, weil sich Männer oft keine Hilfe suchen: «Das Gesundheitssystem identifiziert sie dann gar nicht als depressiv. Das reduziert die Zahlen.»
Anders als viele Männer versteckt Francisco Rodriguez sein Leiden damals nicht: «Ich musste mir Hilfe holen. Ich wüsste sonst nicht, wo ich jetzt wäre», sagt er rückblickend. Zusammen mit seiner Familie und den Verantwortlichen seines damaligen Vereins entscheidet er sich für einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik.
Ich habe nicht mehr mitbekommen, was der Tag mit sich brachte, war antriebslos und sehr negativ eingestellt.
Doch ihm fällt dieser Schritt nicht leicht. Wie viele hat auch Rodriguez Vorurteile gegenüber Psychiatrien: «Ich wollte nicht gehen. Es war für mich unvorstellbar, dass ich mich einmal in einer Klinik behandeln lassen muss.»
Francisco Rodriguez leidet damals an klassischen Depressionssymptomen. Als «ein Rattern um einen Gedanken, der unfassbar stark ist», beschreibt er seinen damaligen Zustand. «Ich habe nicht mehr mitbekommen, was der Tag mit sich brachte. Ich war antriebslos und sehr negativ eingestellt in Bezug auf mein ganzes Leben. Ich hatte keine Motivation für nichts.»
Doch häufig äussern sich Symptome bei Männern ganz anders: Es kommt eher zu Wutanfällen, Aggression, Drogenmissbrauch oder risikoreichem Verhalten. Weil diese Symptomatik weniger typisch ist, werden Depressionserkrankungen bei Männern häufig gar nicht als solche erkannt.
Bei Francisco Rodriguez wird die richtige Diagnose gestellt. Und er ist trotz erster innerer Widerstände bereit, seine Depression in einer Klinik zu therapieren. Einen Monat dauert der Aufenthalt. Dabei stehen nebst Gesprächstherapien auch Töpferkurse oder Maltherapien auf dem Programm. «Das hat mir geholfen, wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen», erzählt Rodriguez. Doch er habe danach noch über acht Monate an seiner Erkrankung zu kämpfen gehabt.
Heute, vier Jahre später, dribbelt er über den Fussballplatz im Training des Superligisten FC Winterthur. Er scheint die Depression überwunden zu haben.
Jeder dritte Fussballer leidet
Seine Offenheit im Umgang mit der Erkrankung sorgt für Schlagzeilen. 2020 gibt er im Westschweizer Fernsehen ein Interview, spricht unverblümt darüber und bricht damit ein riesiges Tabu.
Denn besonders im Fussball sind mentale Leiden kaum ein Thema: «Wenn es einem psychisch nicht gut geht, ist es schwierig, mit den Verantwortlichen zu sprechen und um Hilfe zu bitten. Ich glaube, in der Gesellschaft, insbesondere im Fussball und im Leistungssport, ist das alles noch schwierig.»
Es ist eine Krankheit. Wie eine normale Verletzung.
Doch gerade im Fussball wäre es bitter nötig: Denn gemäss einer Umfrage der Profifussballer-Vereinigung FIFPro leidet über ein Drittel der Spieler in ihrer Karriere einmal an Depressionen oder Angstzuständen.
Dass Francisco Rodriguez so offen über seine Depression sprechen kann, ist keine Selbstverständlichkeit: «Die Akzeptanz dieser Krankheit ist mir sehr schwergefallen – dass es überhaupt eine Krankheit ist, wie eine normale Verletzung.»
Heute ist es ihm ein Anliegen, auch andere Menschen zu dieser Einsicht zu bewegen: Vor einem Jahr hat er zusammen mit seinem Fussballkollegen Cedric Brunner das Magazin «99 Prozent» herausgegeben. Darin kommen Fussballer zu Wort, die über ihre mentale Gesundheit sprechen.
Und vor einigen Monaten hat Rodriguez einen Podcast lanciert. Mit seinen Gästen lässt er auch das Thema mentale Gesundheit immer wieder einfliessen.
Mittlerweile kann Francisco Rodriguez seiner Depression sogar etwas Positives abgewinnen. Die Erkrankung habe ihn resilienter gemacht. Aktuell zum Beispiel bereiten ihm die Folgen einer Verletzung Probleme auf dem Fussballplatz – so wie damals, als er an der Depression erkrankte. Er steht deshalb momentan nicht im Aufgebot seines Vereins FC Winterthur.
Ein Umstand, der ihn auch mental belastet. Doch Francisco Rodriguez fürchtet sich nicht vor einem Rückfall: «Die Situation kann ich jetzt besser meistern, weil ich damals eine schwere Phase durchgemacht habe», sagt er zuversichtlich und fügt an: «Jetzt weiss ich, dass der Fussball nicht alles ist, wie ich dies damals in meinem jungen Kopf glaubte.»