Auf die Frage, ob Marysol Schalit ihren Beruf als Opernsängerin nochmals wählen würde, zögert sie. «Ja», sagt sie schliesslich. «Wahrscheinlich ja.» Dabei ist das Zusammenspiel von Musik und Schauspiel ihre grosse Leidenschaft. 12 Jahre war die Berner Sopranistin am Theater Bremen festangestellt.
Heute setzt Marysol Schalit ihre internationale Karriere als Freischaffende fort. Sie steht auf zahlreichen Bühnen Europas, hat auch in China gesungen. Doch sie kennt auch die Schattenseite der schillernden Opernwelt. «SRF Reporter» hat mit mehr als einem Dutzend Berufssängerinnen aus der Schweiz gesprochen.
Die Mehrheit traut sich nicht, vor der Kamera über ihre Erfahrungen zu sprechen. Fast alle erzählen von viel Drill, Druck und Disziplin. Von ungleichen, ausgenutzten Machtverhältnissen und von einem Bewusstsein dafür, das nur langsam wächst.
Professionell Opern zu singen, bedeutet Höchstleistung. Längst zählt dabei nicht nur die Stimme, sondern ebenso wichtig ist der Auftritt – und das Aussehen. «Dieser Job macht keiner, der nicht dafür brennt», sagt Marysol Schalit.
Geküsst gegen den Willen
Besonders in den Anfängen ihrer Karriere hat Marysol Schalit mehrere heftige Grenzüberschreitungen erlebt, wie sie sagt. So steckte ihr ein Bühnenpartner mitten in der Vorstellung die Zunge in den Mund. Vor dem Publikum. Auch ein anderer Kollege nutzte die fragile Situation während einer Aufführung schamlos aus: Er nahm ihre Hand und legte sie ungefragt in seinen Schritt.
Die Sopranistin erzählt auch von einem berühmten Dirigenten, 30 Jahre älter als sie. Er küsste sie nach Abschluss der Konzertreihe ungefragt und lud sie später aufs Hotel ein. Sie lehnte ab. Als Grenzüberschreitungen zählen für Marysol Schalit auch Machtspiele, wie Mitarbeitende blosszustellen oder zu erniedrigen.
Sie sind laut der Sängerin immer noch trauriger Alltag in der Branche. Die Mehrheit schweigt – aus Angst und Scham in einem Business, in dem das Machtgefälle und die Konkurrenz riesig ist.
Opernbranche anfällig für Sexismus
Auch die wohl bekannteste Opernsängerin der Schweiz, Noemi Nadelmann, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. «Ein Kollege hat mich an Stellen berührt, wo ich nicht berührt werden sollte. Ein anderer Bühnenpartner hat mich gegen meinen Willen geküsst.» Sie habe sich beide Male gewehrt.
Wenn es der Regisseur oder der Dirigent war, schwieg ich, rief meine Mutter an und weinte.
Die Sänger seien zitiert worden und mussten sich entschuldigen. «Aber wenn es der Regisseur oder der Dirigent war, schwieg ich, und rief meine Mutter an und weinte», erinnert sich Nadelmann. Als Freischaffende müsse man viel erdulden, um engagiert zu werden. Auch männliche Sänger seien davon betroffen.
Noëmi Nadelmann sagt aber auch: Im Gegensatz zu früher wachse das Bewusstsein. So sei ein verbindlicher Verhaltenskodex an den meisten Theatern heute Standard. Zunehmend würden auch sogenannte Intimacy Coaches engagiert. Diese Experten schauen, dass intime Szenen einvernehmlich ablaufen.
Doch offenbar bleibt die Branche anfällig, wie eine Umfrage an deutschen Opernhäusern zeigt: Über 61 Prozent der befragten klassischen Sängerinnen hat mehrfach Sexismus erlebt. Gar über 71 Prozent mussten sich Bemerkungen zu Körper oder Körperteilen gefallen lassen.
Grosses Machtgefälle
Als Shootingstar am Schweizer Opernhimmel gilt Regula Mühlemann. Die Sopranistin sagt, sie habe sich immer gewehrt – auch für andere.
Doch auch sie wurde schon von einem bekannten Dirigenten abgestraft, weil sie seiner Aufforderungen zu einem Drink nicht folgte. «Überall, wo es Menschen gibt mit viel Macht und andere mit sehr wenig, ist die Gefahr da, dass sich letztere nicht trauen, sich zu wehren.»
Klare Worte findet Marion Ammann, die als Wagner- und Strauss-Sängerin international bekannt ist. «Es gibt genügend Opernsängerinnen, die auf niemanden angewiesen sind. Man nimmt aber vor allem die, die nichts sagen. Mir wurde in meiner Karriere auch schon nahegelegt: ‹Mach einfach deinen Job und sei ruhig›.»
Halbnackt auf der Bühne und Sexszenen
Kunst geht oft an die Grenzen, um Grosses zu schaffen. In der Opernwelt hat sich das Regietheater zunehmend durchgesetzt: Die Aufführungen sind heute spektakulärer, exzentrischer und intimer.
«Es gibt Regisseure, die Sachen verlangen, die ganz klar über die Grenzen gehen. Dass wir Sängerinnen und Sänger halbnackt sind, ist normal geworden. Auch, dass wir Sexszenen mimen müssen.»
Das sagt Maria Riccarda Wesseling, die als Mezzosopranistin weltweit Karriere gemacht hat. Sie kennt das Business seit 30 Jahren. Man müsse sehr robust sein, um zu bestehen.
Ein Ungleichgewicht besteht auch in der Rollenverteilung. Wesseling arbeitet seit ein paar Jahren auch als Regisseurin – eine Rarität. Nach wie vor sind Frauen in der Klassik in Leitungspositionen stark untervertreten.
«In den ersten Gesprächen, in denen ich sagte, ich möchte Regie machen, wurde zuerst gelächelt. Oder es kam die Reaktion: ‹Ach, wahrscheinlich kann sie nicht mehr so singen›.»
Vom Mut, das Wort zu erheben
Sopranistin Maryol Schalit hat sich entschieden, zu sprechen. Sie betont immer wieder, wie viel Mut es in der Branche braucht, sich zu wehren.
«Besonders, wenn man inmitten einer Situation, etwa in einer laufenden Produktion, ist. Es ist schwer, das Wort zu erheben und die Leute zu konfrontieren.» Es gäbe zwar meist einen Verhaltenskodex, doch diesen erachte sie mehrheitlich als Alibi: «Er wird zwar unterschrieben, aber es ist höchst selten, dass die Richtlinien immer eingehalten werden.»
Doch sie ist überzeugt: Es kommt nur zu einer Veränderung, wenn genügend Sängerinnen und Sänger hinstehen, und nicht länger schweigen.