Wer neu in die Nati kommt, muss vorsingen. Auch ich. Ein Teambildungsding, sagt mir Captain Ramona Bachmann. «Es ist mega unangenehm. Aber da muss man durch.» Unangenehm? Eine glatte Untertreibung, finde ich. Vorsingen ist mein persönlicher Albtraum. Und ich werde auch noch gefilmt dabei.
Es sind für mich – unübertrieben – die schlimmsten Minuten meiner Fernsehkarriere. Ich schäme mich in Grund und Boden. «Jetzt kennst du das Gefühl, wenn alle zuschauen und du verschiesst den Penalty», sagt Athletiktrainerin Mélanie Pauli trocken.
Ich bin überrascht, wie offen und herzlich mich das Team aufnimmt. Ramona Bachmann leiht mir spontan ihre Nockenschuhe. Grösse 37. Kleine Füsse, grosse Fussballerin. Das weiss sogar ich, obwohl ich mich nicht speziell für Fussball interessiere. 149 Mal hat Bachmann für die Schweiz gespielt und dabei 59 Tore erzielt. Sie war bei Chelsea und Paris Saint-Gérmain unter Vertrag. Auf dem einen Schuh prangen die Namen ihrer Familie, auf dem anderen steht der Name ihrer Frau.
Ramona Bachmann hat aus ihrem Privatleben nie ein Geheimnis gemacht. Auch nicht, als sie und Nati-Kollegin Alisha Lehmann ein Paar waren. Im Männer-Fussball noch immer undenkbar.
Die Europameisterschaft im eigenen Land
Im nächsten Sommer bekommt der Fussball der Frauen endlich ein grosses Schaufenster. Die Schweiz ist Gastgeberin der Europameisterschaft 2025. Diese Perspektive habe sie hierhergelockt, sagt mir Trainerin Pia Sundhage.
Die Schwedin Pia Sundhage hat mit den besten Teams der Welt gearbeitet. Die Schweiz kann da nicht mithalten. Aber eine EM im eigenen Land sei ein unvergleichliches Erlebnis. «Ich wünsche mir, dass wir damit in der Schweiz ein Feuer entfachen können.»
Mona mittendrin im Hotel, Teambus und auf dem Feld
Im Hotel, im Teambus, in der Garderobe, ja sogar im Eisbad nach dem Training: Die Kamera und ich können überall dabei sein. Keine einzige Intervention der Medienverantwortlichen. Die Stimmung ist beinahe familiär.
Die zweite Überraschung: «Gamen» sieht in dieser Nati etwas anders aus. Statt am Bildschirm spielt man Brettspiele oder jasst.
Meriame Terchoun: die Kämpferin
Eine Spielerin kannte ich schon vorher: Meriame Terchoun. Wir trafen uns zufällig im Schrebergarten ihrer Mutter, der in meiner Nachbarschaft liegt. Meriames Karriere war damals praktisch vorbei. Sie hatte ihren dritten Kreuzbandriss innerhalb von vier Jahren. Das Risiko, weiterzumachen, lohne sich nicht, sagten ihr die Ärzte: «Nicht für Frauenfussball.»
Meriame fiel in eine Depression. Rappelte sich auf. Verbrachte einsame Stunden im Fitnessraum. Und spielt heute wieder auf Topniveau in der ersten französischen Liga.
Man realisiert erst jetzt, dass unsere Körper anders funktionieren. Dabei waren wir doch schon immer Frauen.
Dass Sundhage voll auf Meriame und ihre Kämpfermentalität setzt, freut mich enorm für sie. «Man realisiert erst jetzt, dass unsere Körper anders funktionieren. Dabei waren wir doch schon immer Frauen.»
Sie arbeite heute ganzheitlicher mit ihrem Körper, sagt mir Meriame. Der Menstruations-Zyklus zum Beispiel wird bei der Nati ins Training einbezogen. Früher sei das meist Tabu gewesen.
Athletiktrainerin Mélanie trackt die Zyklen der Spielerinnen via App. Die Leistungsbereitschaft, aber auch das Verletzungsrisiko sind in gewissen Phasen höher. Die Intensität des Trainings kann angepasst werden, ebenso die Ernährung. Am Frühstücksbuffet etwa entdecke ich unterschiedliche Shakes, angepasst auf die Zyklusphase.
Spaziergang mit dem Superstar
«Wie ist Alisha Lehmann so?», wurde ich nach dem Dreh x-fach gefragt. Alisha Lehmann ist der Superstar. Sie hat mehr Follower auf Instagram als Roger Federer. Ein guter Teil der 17 Millionen Fans hat gesehen, wie mich Alisha beim Spazieren am See erschreckte.
Durchgestylt auf Socialmedia-Bildern, aber bodenständig und authentisch im echten Leben. So erlebe ich sie. Fussball spielen mit künstlichen Wimpern? «Easy. Die halten zwei Wochen», sagt sie. Ihre Mutter habe sie bestärkt, zu sich zu stehen: «Spiel Fussball. Mach Karriere. Aber mach beides so, wie es für Dich stimmt.»
Alisha und ihr Freund, Profifussballer Douglas Luiz, wurden im Sommer beide von Aston Villa zu Juventus Turin transferiert. Er für 50 Millionen, sie für 50'000. «Wir haben Fifty-Fifty abgemacht», lacht sie.
Bedingungen noch immer weit weg vom Männer-Fussball
Der Lohn ist ein Thema. Ab 500 Franken pro Monat gilt man in der Schweiz schon als «Profi». Fussballerinnen in der Schweizer Liga haben meistens noch einen Brotjob oder studieren. Wer sich auf den Sport konzentrieren will, muss fast immer ins Ausland.
Dort finden die Spiele auch vor einem bedeutend grösseren Publikum statt. In der Schweiz sind es im Schnitt nur ein paar Hundert Zuschauerinnen und Zuschauer. Bei der Heim-EM werden die Spiele ausverkauft sein – darauf freuen sich Ramona, Alisha und Meriame.
Mich beeindrucken die Frauen im Nati-Dress. Frauen und Fussball – in ihrer Generation immer noch keine Selbstverständlichkeit. Aber wie heisst es so schön? «Gegenwind formt den Charakter.» Das macht sie zu Vorbildern, weit über den Fussball hinaus.
«Ich wusste, dass du es kannst!»
«Schiesst du heute ein Tor?», frage ich Meriame Terchoun vor Beginn des Spieles gegen Aserbaidschan. «Seit 2016 habe für die Nati keins mehr gemacht», antwortet sie. «Schiess eins für mich», sage ich.
Es läuft die 24. Minute, als Ramona Bachmann einen Pass auf Meriame spielt. Und die versenkt ihn tatsächlich! Nach dem schlimmsten jetzt einer der schönsten Momente.
Mit mir hat dieses Team einen Fan mehr, der sich auf die Euro 2025 freut.