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Musizierende brechen ein Tabu – Karriere auf Kosten der Gesundheit
Aus Reporter vom 29.05.2024.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 32 Minuten 54 Sekunden.

Tabubruch in der Musikszene Musikkarriere auf Kosten der Gesundheit

Sie stehen unter Leistungsdruck und sind einem harten Konkurrenzkampf ausgesetzt: Profi-Musikerinnen und -Musiker zahlen einen hohen Preis, um von ihrer Musik leben zu können. Doch die Folgen davon können nicht zuletzt ihr Karriere-Aus bedeuten.

Ihre Finger machen nicht mehr, was sie will. «Meine Zukunft ist unplanbar. Ob ich ein Konzert wirklich spielen kann, bleibt völlig ungewiss.» Anaïs Chen kämpft mit den Tränen, als sie diese Worte über ihre Lippen bringt.

Die 43-jährige Profi-Musikerin hat eine sogenannte fokale Dystonie. Eine neurologische Erkrankung, die auch Musikerkrampf genannt wird: Gegen ihren Willen krallen sich Ringfinger und kleiner Finger beim Spielen ein.

Was ist eine fokale Dystonie?

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Fokale Dystonie ist eine neurologische Erkrankung, auch als «Musikerkrampf» bekannt. Betroffene Musiker und Musikerinnen können feinmotorische Aktivitäten nicht mehr wie gewohnt ausführen, da sich Muskeln verkrampfen.

Dies führt zu  «nicht willentlichen» Bewegungen, womit das Musizieren gestört ist. Es können verschiedene Bereiche betroffen sein, etwa Finger, Kehlkopf oder Füsse.

Die fokale Dystonie ist ein Phänomen, bei welchem man die genauen Ursachen bis heute nicht kennt. Aufgrund dessen existieren keine standardisierten Therapien. Betroffen ist etwa einer von 100 Musizierenden. Häufig handelt es sich dabei um klassische Musikerinnen und Musiker.

Während Jahren tritt die Violinistin mit den berühmtesten Barockensembles in ganz Europa auf. Füllt Konzertsäle und kann gut von ihrer Musik leben. Bis sich ihre Finger schleichend verselbstständigen und der Arzt bei ihr fokale Dystonie diagnostiziert.

Die Diagnose ist ein Schreckgespenst unter Musikerinnen und Musikern und kann häufig auch das Ende der Karriere bedeuten. Darüber gesprochen wird kaum.

Tabuthema Gesundheit

Viele Personen ihres Umfeldes haben Anaïs Chen davon abgeraten, offen über ihre Erkrankung zu sprechen. Doch Chen will bewusst das Tabu brechen, zeigt ungeschönt, was es bedeutet, wenn bei einem Profimusiker die Gesundheit nicht mehr mitspielt.

Profi-Musikerin Anaïs Chen
Legende: Durch den «Musikerkrampf» ist Chens Karriere in Gefahr. SRF

Die Geigerin will die Musikszene aufrütteln: «Ich denke, viele haben gesundheitliche oder psychische Probleme, aber getrauen sich nicht, darüber zu sprechen.»

Musik war im Leben von Anaïs Chen stets zentral, der «einziger Anker», wie sie es formuliert. Umso schwieriger fällt es ihr, die Diagnose zu akzeptieren.

Früher Leistungsdruck

Eine Musikkarriere verlangt früh viel ab. Der 23- jährige Maxime Trechsel steht ganz am Anfang seiner Laufbahn, möchte eines Tages von der Musik leben. Früh wird Trechsel mit Druck konfrontiert.

Ich war der einzige Schüler, der während der Lektion nicht geheult hat. Als kleines Kind war ich stolz darauf. Das ist absurd.
Autor: Maxime Trechsel Pianist in Ausbildung

Das erste Mal mit fünf Jahren, bei einem strengen Klavierlehrer in Florenz, wo er aufgewachsen ist. «Ich war der einzige Schüler, der während der Lektion nicht geheult hat. Als kleines Kind war ich stolz darauf. Das ist absurd.»

Maxime Trechsel ist Piaist in Ausbildung.
Legende: Auch dem 23-jährigen Maxime Trechsel sind Druck und Drill nicht fremd. SRF

Später, bei der Ausbildung an der Hochschule Luzern, ist der Einzelunterricht ein zentrales Element. Hier ist die Beziehung besonders wichtig: Fördern und Überfordern liegen nahe beieinander.

Musikhochschulen sehen Handlungsbedarf

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Eine Studie, an der die Hochschule Luzern beteiligt war, zeigt, dass Musikstudierende ihre physische und psychische Gesundheit tiefer bewerten als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Bereits zu Beginn des Studiums geben 40 Prozent der Studierenden an, trotz Schmerzen weiter zu üben. Der Direktor des Departements für Musik an der HSLU, Valentin Gloor, weiss, dass es Handlungsbedarf gibt.

Die Hochschule bietet zurzeit obligatorische und freiwillige Fächer zur Gesundheit an. Auch andere Hochschulen für Musik in der Deutschschweiz betonen, dass sie die Gesundheitsthematik sehr ernst nehmen.

Für Maxime Trechsel ist es eine Herausforderung, auch psychisch gesund zu bleiben. «Es gibt einen grossen Wettbewerb, die Lehrer versuchen, die Schüler zu pushen. Das ist nicht immer gesund.»

Der lange Weg zurück auf die Bühne

Anaïs Chen will auf die Bühne zurückkehren. Tägliches Qigong, spezifische Übungen und verschiedene Therapieansätze helfen ihr dabei. Sie versucht viel, um ihre Krankheit in den Griff zu bekommen.

Trotz aller Anstrengungen und einer leichten Verbesserung der Situation muss sie das geplante Konzert in einer Zürcher Kirche schliesslich absagen. Ihr Gesundheitszustand lässt nur einen kurzen Auftritt vor leeren Rängen zu. Für Profi-Musikerin Chen ein Rückschlag.

Während des Krankheitsausfalls lebt sie von der finanziellen Unterstützung verschiedener Stiftungen und Spendensammlungen von Freunden. Sie hofft – so schnell wie möglich –, die Kontrolle über ihre Finger zurückzugewinnen.

SRF 1, 29.5.2024, 21:00 Uhr;kesm

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