Muska Gailanis Aussage über die Lage der Frauen in Afghanistan ist erschütternd. Die junge Frauenrechtsaktivistin leitet die Organisation «Afghan Women Council» in Kabul, die sich seit bald 40 Jahren für Frauen und Mädchen im Land einsetzt.
Gailanis Arbeit ist nötiger denn je. Denn seit der Rückkehr der Taliban an die Macht erliessen diese zahlreiche Verbote, welche Frauen und Mädchen daran hindern, ihre grundlegenden Rechte auf Meinungsäusserung, Freiheit, Arbeit und Bildung wahrzunehmen.
«Man bekommt das Gefühl, dass Frauen einfach in einen Sack gesteckt und irgendwo versteckt werden sollten, damit niemand sieht, dass sie existieren», klagt Muska Gailani an. Seit dem Tag, an dem die Taliban an die Macht gekommen seien, sei immer die Frau das Ziel gewesen – trotz gegenteiliger Versprechen der Islamisten bei der Machtübernahme im August 2021.
Der Kampf für die Frauenrechte
Gailani hat die Leitung des «Afghan Women Council» von ihrer Mutter Fatana Gailani übernommen. Die Familie Gailani gehört zu den einflussreichsten Familien im Land.
Mutter Fatana Gailani ist eine der prominentesten Verfechterinnen der Rechte afghanischer Frauen und hat sich während Jahrzehnten für die Bekämpfung des Analphabetismus eingesetzt.
Vater Ishaq Gailani ist ein ehemaliger einflussreicher Politiker des Landes. Die vielfältigen Verdienste der Familie für das Land ermöglichen es Muska Gailani, sich auch unter der Herrschaft der Taliban pointiert äussern und engagieren zu können – bis anhin ohne Repressionen befürchten zu müssen.
NGOs unter den Taliban
Ein Hoffnungsschimmer für Fatana Gailani ist die Stiftung «Swisscross». Seit kurzer Zeit vertritt ihre Tochter, Muska Gailani, diese Schweizer Stiftung in Kabul – entgegen einer Weisung der Taliban, welche Frauen die Arbeit für ausländische Organisationen verbietet.
Der Zürcher Schönheits- und Wiederherstellungschirurg Enrique Steiger hat die Stiftung «Swisscross» ins Leben gerufen. Neben seiner Tätigkeit als plastischer Chirurg arbeitet er seit Jahrzehnten in Krisengebieten weltweit.
Mit seiner Stiftung bildet er medizinisches Personal vor Ort aus, um Nothilfe zu leisten. So seit diesem Jahr auch in Afghanistan. Seit mehr als 15 Jahren ist Steiger in Afghanistan bereits tätig. Im Auftrag des Internationales Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) hat er in der Taliban-Hochburg Kandahar ein Provinzspital aufgebaut. Nun engagiert er sich im Rahmen seiner eigenen Stiftung.
«Natürlich ist es provokativ, dass wir eine Frau ausgesucht haben. Wir wollen eine moderne Stiftung sein in Afghanistan», sagt Steiger. Muska Gailani repräsentiere eine moderne Frau aus Afghanistan.
Die Partner von «Swisscross» müssten sich daran gewöhnen, dass eine Frau die Stiftung in Afghanistan repräsentieren werde, so Steiger weiter.
Frauen in Afghanistan stehen nur wenige Arbeitsmöglichkeiten offen. Für ihre Arbeit muss Muska Gailani Hintertüren und unkonventionelle Wege finden.
Ihr Netzwerk und die Erfahrung der Stiftung helfen ihr dabei. Während Muska Gailani im Hintergrund arbeitet, müssen beispielsweise ihre männlichen Angestellten ihre Chefin gegenüber den Taliban vertreten.
Hohe Sterblichkeitsrate bei Frauen- und Kindern
Was Frauenarbeit unter den Taliban anbelangt, stellt das Gesundheitswesen eine Grauzone dar. Hier arbeiten Frauen als Hebammen, Krankenschwestern, Ärztinnen. In Spitälern wird sogar auf die verordnete Geschlechtertrennung verzichtet, in den Universitätsspitälern in Kabul arbeiten Männer und Frauen Seite an Seite.
Auch die einzigen Führungspositionen im Land, die von Frauen besetzt sind, finden sich im Gesundheitswesen. Drei an der Zahl sollen es im ganzen Land sein, sagt Hassan Abbas, Professor für Internationale Beziehungen von der National Defense University in Washington in seinem Buch «The Return of the Taliban» (Yale University Press, 2023).
Eine von ihnen ist Arian Ayoub. Sie ist Direktorin der Frauenklinik der Universität Kabul. 30 Betten weist das Spital auf. Erschreckend wenig für eine Grossstadt von vier Millionen Menschen.
Insbesondere für die Frauen ist die Situation im Gesundheitswesen katastrophal. Das Land hat eine der höchsten Frauen- und Kindersterblichkeitsraten weltweit. Ärztinnen gibt es viel zu wenige.
Viele haben das Land verlassen. Die Ausbildung weiterer ist aufgrund des Bildungsverbotes nahezu unmöglich. «Hoffentlich werden die Schulen und die Universität wieder geöffnet», klagt Arian Ayoub.
Ziviler Ungehorsam und Online-Ausbildung
Trotz Ausschluss und Unterdrückung, zumindest im Gesundheitswesen, gibt es Hoffnungsschimmer für Frauen. Die Taliban von heute sind nicht die Taliban der ersten Herrschaftszeit von 1996 bis 2001.
Offenbar gibt es innerhalb der Führungsriege grosse Meinungsverschiedenheiten, die nur wenig nach aussen dringen. Die Hardliner haben das Sagen.
Doch verschiedene Kenner des Landes wie auch der Professor und Buchautor Hassan Abbas beobachten, dass die junge Generation offener ist als die alte, gerade auch gegenüber Frauenrechten.
Wie der Schweizer Chirurg Enrique Steiger engagiert sich auch der in Zürich tätige Maiwand Ahmadsei für Frauen in Afghanistan.
Laut ihm gibt es diesen zivilen Ungehorsam in der Bevölkerung, der ihm und seinem grossen und internationalen Team ihre Arbeit ermögliche: «Die jüngere Generation ist gar nicht damit einverstanden, dass man dieses Schul- und Universitätsverbot so konsequent durchsetzt. Während die Hardliner das unbedingt haben möchten. In diesem Graubereich gibt es für uns eine Chance».
Aus Zürich bieten Ahmadsei und sein Team Schulung für Studentinnen in Afghanistan an. Hebammen und Krankenschwestern können zu Ärztinnen weitergebildet werden. Die Regierung weiss vom Ausbildungsprojekt und lässt es geschehen. Schliesslich ist der Mangel an medizinischem Personal riesig.
Das weiterführende Studium digital und vor Ort wird offiziell nicht deklariert, von den Taliban jedoch toleriert. Für ein Abschlussexamen ist allerdings noch keine Lösung in Sicht.
Ob diese Entwicklung in eine freiere Zukunft für die Frauen des Landes weist, bleibt offen. Die Hoffnung, sie stirbt zuletzt.