Weltweit gibt es Bedenken gegen Tiktok – auch in der Schweiz: Manipulation, Sicherheit, Spionage. In einigen Ländern, wie Indien oder Pakistan, ist die App verboten. In den USA steht sie auch kurz davor.
Dabei muss sich Tiktok gegen amerikanische Internetriesen wie Google oder Meta behaupten. Die App gehört zum chinesischen Unternehmen Bytedance und wird auch aus diesem Grund wie unter einem Mikroskop inspiziert. Die Angst geht um, dass China die Daten der App nutze, um zu spionieren oder zu manipulieren.
Diese Vorwürfe stehen seit mehr als einem Jahr im Raum. Doch was hat Tiktok verändert?
Seit dem Inkrafttreten des Digital Services Act der EU muss das Unternehmen viele neue Vorschriften erfüllen, unter anderem grössere Transparenz und mehr Datenschutz. Sonst können hohe Geldbussen folgen. Tiktok baut um und versucht seinen Ruf zu retten. Sie wollen nicht die böse, sondern die gute App sein.
Tiktok will sich erklären
Dafür reist Tim Klaws, ein Leiter der Regierungsbeziehungen von Tiktok, extra in die Schweiz. Den Manipulations- und Spionage-Vorwurf kontert er: «Wir sind bislang noch nie gefragt worden von der chinesischen Regierung, Daten zu teilen. Und selbst wenn wir gefragt würden, würden wir es nicht machen», sagt er im exklusiven SRF-Interview.
In Kurzform erklärt er, wie sie mit ihrem eigenen «Project Clover» Tiktok umgestalten.
«Die Daten werden zukünftig in Europa gespeichert. Wir arbeiten auch mit einer Drittpartei zusammen, der NCC Group, die das Ganze überwacht. Die zweite Ebene ist, dass wir den Zugriff von intern auf die Daten, die dort gespeichert sind, weiter minimieren wollen.»
Tim Klaws nimmt sich 1.5 Stunden Zeit für ein langes Interview, beantwortet jede Frage. Bis es zu diesem Interview gekommen ist, ist mehr als ein halbes Jahr vergangen.
Die Kommunikation zu Tiktok war offen. Als grosses Unternehmen ist es in seinem Interesse, ein positives Image zu verkaufen. Es geht um seinen Ruf. Gerne hebt das Unternehmen die Tiktok-Stars und die Erfolgsstories der App hervor.
Vom Koch zum Tiktok-Star
Der 24-jährige Oluyomi Scherrer, gelernter Koch aus Bern, ist mit mehr als 16 Millionen Anhängern unter den Top Ten der deutschsprachigen Tiktok-Stars. Die chinesische App hat seine Welt auf den Kopf gestellt: «In der Schweiz und in Deutschland ist es extrem: Ich kann eigentlich nirgendwo mehr hin, ohne dass ich erkannt werde.»
Für ihn sei Tiktok alles. Er hat im März einen eigenen Online-Shop eröffnet und nimmt als Boost seine Reichweite. Vom Star zum Geschäftsinhaber, ein zweites Standbein sei ihm wichtig. Nur verständlich, denn nur auf eine Plattform zu setzen, bei der ein Verbot diskutiert wird, ist riskant.
Polizei warnt mit Kurz-Videos
Ein weiteres Beispiel zeigt die Kantonspolizei Aargau auf der Plattform.
Mediensprecher Marco Roduner und seine Kollegen produzieren Videos mit präventivem Charakter: Die Kantonspolizei warnt vor Telefonbetrug, Online-Abzocke oder weist auf gefährliches Verhalten oder Bussen hin. «Wir können schnell auf Phänomene eingehen und können so auch Leute davor warnen», sagt Roduner.
So schnell und wirkungsvoll konnte die Polizei die junge Zielgruppe noch nie erreichen.
Marken strömen auf Tiktok
Tiktoks Community wächst, auch in der Werbebranche. Immer mehr Schweizer Marken wollen Tiktok nutzen. Dort können sie mit geringem finanziellem Einsatz und guten Ideen eine effiziente Imagekampagne fahren.
Werbevideos erscheinen auf der App beim Scrollen zwischen den normalen Videos.
«Wichtig ist, dass die Unternehmen, die Tiktok als Werbeplattform begreifen, im besten Fall Teil der Communitys werden, das heisst mit ihren Massnahmen, mit ihrer Werbung auf Tiktok genauso unterhalten, wie das die Creatorinnen und Creatoren mit ihren Videos tagtäglich tun», sagt Mico Hecker, Leiter des Tiktok-Werbegeschäfts in der Schweiz.
Grosses Marketing-Interesse an der App
Hecker hielt im November 2023 einen Vortrag bei den Webstage Masters in Engelberg, der grössten Schweizer Social-Media-Marketing-Konferenz, und füllte einen ganzen Saal.
Je mehr Werbebotschaften wir in unserer App platziert bekommen, desto mehr Geld verdienen wir.
Das Interesse ist gross und beidseitig. Die chinesische App will die Marken der Schweiz an sich ziehen, damit sie auf Tiktok Werbung schalten. «Je mehr die App genutzt wird, desto mehr Zeit und Fläche ist da, um Werbebotschaften zu platzieren. Und je mehr Werbebotschaften wir in unserer App platziert bekommen, desto mehr Geld verdienen wir», sagt Hecker.
Tiktoks dunkle Seiten
Tiktok ist wie eine Lotterie. Videos können in kürzester Zeit Millionen von Menschen erreichen. Denn sie werden nicht nur den eigenen Freunden, sondern allen Tiktok-Usern gezeigt. Davon profitiert die Polizei, und so ist auch Pronto berühmt geworden.
Für die Auswahl sorgt das Herz von Tiktok: sein Algorithmus. Durch eine Daten-Analyse der User liefert er der Person vor dem Smartphone immer mehr Videos, die ihr gefallen könnten. Ziel der Plattform ist es, die Person möglichst lange in der App zu halten.
Doch dadurch kann Tiktok sie ins sogenannte Rabbit Hole ziehen. Die Person sieht immer mehr Videos von gleicher Art, Meinung und Thema – und sie werden immer extremer.
Studien und Experten haben Tiktok unter anderem folgende Probleme attestiert: mögliche Suchtgefahr, Depressionsverstärkung, Manipulation durch politische Botschaften oder Fake News.
Um die User vor gefährlichen Inhalten zu schützen, gibt es auf Tiktok Richtlinien, in denen steht, was verboten ist. «Ausweislich unseres Transparenzberichts haben wir im dritten Quartal 2023 mehr als 136 Millionen Videos heruntergenommen, die gegen unsere Gemeinschaftsrichtlinien verstossen haben. Über 90 Prozent davon innerhalb von 24 Stunden», sagt Tim Klaws, Leiter der Regierungsbeziehungen von Tiktok.
Kinderschutz ist eine industrieweite Herausforderung.
Dafür sorgen ein technisches Filtersystem und zudem über 6000 Menschen (Moderatorinnen und Moderatoren, Rechtsexpertinnen und -experten) in Europa. Und die Nutzenden selbst sollen problematische Inhalte melden.
Der Mensch als Urheber von problematischen Inhalten und als korrigierender Faktor – kann das funktionieren?
Kinderschutz ohne Biss
Das Mindestalter bei Tiktok beträgt 13 Jahre. Doch es ist sehr einfach, sich bei der Registrierung für jemand Älteren auszugeben.
Wenn die Eltern sie nicht aktiv auf dem Handy begleiten, ist von Kinder- und Jugendschutz wenig übrig. «Das ist eine industrieweite Herausforderung, wie wir das hinbekommen. Und bislang gibt es nicht diese eine technische Lösung. Im dritten Quartal 2023 haben wir 20 Millionen Konten weltweit gelöscht, bei denen wir zum Schluss gekommen sind, dass sie nicht mit dem Mindestalter übereinstimmen», sagt Klaws.
Hoffnung auf Besserung
Tim Klaws fügt hinzu: «Natürlich soll nicht alles schöngeredet werden, aber es soll auch nicht alles schlecht geredet werden. Ich glaube, dieser Diskurs ist wichtig, dass wir einen positiven Ort schaffen.»
Klaws wiederholt oft und gerne folgenden Satz, der wie ein kleines Eingeständnis von Problemen klingt und auf Besserung hoffen lässt: «Wir werden nie zufrieden sein, das ist unser Anspruch. Wir wollen besser werden.»
Die künftigen Veränderungen bei Tiktok werden zeigen, in welche Richtung die App geht. Dabei spielen das Verhalten der User und die Regeln der Staaten eine grosse Rolle. Über beides wird stark diskutiert.