Es ist sieben Uhr morgens im Zoo Zürich. Tierpfleger Marco legt das letzte Futter für die sechs Monate alte Säbelantilope aus. In wenigen Minuten wird der junge Bock geschossen – ein Tier einer Art, die in freier Wildbahn als vom Aussterben bedroht gilt. Was auf den ersten Blick paradox wirkt, ist Teil einer klaren, langfristig ausgerichteten Strategie.
Zoos bauen sogenannte Reservepopulationen auf, um als Backup für die Natur zu dienen und bedrohte Tierarten zu schützen. Damit diese Zucht funktioniert, müssen sich die Tiere möglichst natürlich fortpflanzen, damit wichtige Sozialstrukturen, elterliches Verhalten oder Fortpflanzungsinstinkte erhalten bleiben. Doch genau dies führt dazu, dass regelmässig mehr Jungtiere geboren werden, als langfristig Platz finden.
Genau so ergeht es nun dem sechs Monate alten Säbelantilopen-Bock im Zoo Zürich. Es gab vermehrt Revierkämpfe mit einem anderen Bock, weshalb es für ihn hier keinen Platz mehr gibt. Um ihm unnötigen Stress zu ersparen, wird er direkt inmitten seiner Herde geschossen. «Würde die Situation vom Gewohnten abweichen, würde das Tier sofort unruhig und nervös», erklärt Tierpfleger Marco.
Ein Schuss für den Kreislauf
Die Herde trottet gemächlich zum Futterplatz. Auf dem Dach nebenan bringt sich der Schütze in Position, nimmt das Jungtier ins Visier – dann ein Knall. Der junge Bock bricht zusammen, die Gruppe zuckt kurz, frisst dann weiter, als wäre nichts geschehen. Für den Bock endet das Leben – und zugleich beginnt ein neuer Kreislauf: Sein Körper geht an die Hyänen.
Die Universität Zürich steht hinter diesem Vorgehen. Sie kritisiert gängige Verhütungspraktiken in Zoos, denn diese führten dazu, dass Tierpopulationen überaltern und dadurch die langfristige Erhaltungszucht gefährdet werde. Stattdessen plädieren sie für solche gezielten Tötungen: Dies könne nicht nur das Verständnis für den natürlichen Lebenszyklus fördern, sondern auch zur Fleischversorgung von Raubtieren beitragen und so die Klimabilanz der Zoos verbessern.
Zurück im Zoo Zürich. Die tote Säbelantilope wird von den Tierpflegern direkt zu den Hyänen gebracht, im Gehege wird der Tierkörper aufgehängt. «Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als einem Tier einfach ein Stück Fleisch hinzuwerfen», sagt Tierpfleger Marco. Die Raubtiere sollen sich ihr Futter erarbeiten – und das tun sie. Stundenlang sind die Hyänen damit beschäftigt, an dem Aas zu zerren, zu reissen, es zu verspeisen. Es dauert nicht lange, bis die Innereien aus dem aufgehängten Kadaver plumpsen und der Kopf einer Hyäne tief im toten Tier verschwindet.
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Bild 1 von 7. Die tote Säbelantilope wird von den Tierpflegern zu den Hyänen gebracht – als Ganzkörperfütterung. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 7. Das Futter soll den Tieren nicht einfach serviert werden, sondern ihnen eine Herausforderung bieten. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 7. Die Hyänen sollen ihr Futter suchen, kämpfen, zerlegen. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 7. Die Raubtiere lassen sich Zeit. Stundenlang reissen, zerren und knacken sie an Knochen und Haut. Bildquelle: SRF.
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Bild 5 von 7. Besonders beliebt: die Innereien. Weil sie noch warm sind, fressen die Hyänen sie meist als Erstes. Bildquelle: SRF.
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Bild 6 von 7. Kopf voran ins Buffet. Bildquelle: SRF.
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Bild 7 von 7. Viel ist nicht mehr übrig – nur noch die Hörner erinnern daran, dass hier vor Kurzem eine Säbelantilope hing. Bildquelle: SRF.
Während diese Antilope zerfleischt wird, wartet ein anderer Bock auf seine Reise in einen anderen Zoo. Die bedrohten Säbelantilopen sind Teil eines europaweiten Zuchtprogramms. Die meisten Zoos in Europa sind im Netzwerk der EAZA, der Europäischen Zoovereinigung, organisiert. Dieses koordiniert die Erhaltungszucht wie ein riesiges Puzzlespiel: Tiere werden gezielt zwischen Zoos verschoben, um genetisch vielfältige und gesunde Populationen aufzubauen.
Anspruchsvolle Auswilderung
Doch nicht alle Tiere bleiben ihr ganzes Leben im Zoo. Ziel solcher Programme ist es nicht nur, gesunde Populationen in menschlicher Obhut aufzubauen, sondern langfristig auch Tiere wieder in die Wildnis zu entlassen. Die Auswilderung ist so etwas wie die Champions League des Artenschutzes: Auswilderungen sind sichtbare Erfolge, verlangen aber eine perfekte Vorbereitung, gutes Timing und jahrelange Arbeit.
Die Säbelantilope ist in diesem Fall ein Vorzeigebeispiel. Diese Rasse galt in freier Wildbahn als ausgestorben und war in ihrem ursprünglichen Lebensraum nicht mehr anzutreffen. Durch internationale Zuchtprogramme, unter anderem in europäischen Zoos, konnten stabile Bestände aufgebaut werden. Inzwischen wurden erste Tiere in Schutzgebiete wie etwa im Tschad ausgewildert – ein seltener, aber bedeutender Erfolg des modernen Artenschutzes.
Artenrecht über Individualrecht?
Doch die Strategie stösst auch auf Kritik. Tierschützerinnen und Tierschützer von PETA schreiben auf Anfrage: «Effektiver Artenschutz muss auf den Erhalt von Lebensräumen und den Schutz der Tiere in freier Wildbahn setzen, nicht auf die Verwaltung austauschbarer Bestände in Gefangenschaft.» Auch Sibel Konyo von der Stiftung Tier im Recht stellt die Grundidee infrage: «Was bringt es dem einzelnen Tier, wenn seine Art überlebt, es selbst aber sein ganzes Leben hinter Gittern verbringen muss?»
Für die Tierschützerin wird hier das Artenrecht klar über das Individualrecht des einzelnen Tieres gestellt. Auch das Argument des Artenschutzes überzeugt sie nur bedingt: «Solche Auswilderungen sind äusserst selten möglich, da die Tiere oft verlernt haben, in der Wildnis zu überleben. Und selbst wenn nicht, fehlen meist die geeigneten Lebensräume, um gefährdete Arten überhaupt wieder anzusiedeln.» Der Zoo Zürich betont, dass geeignete Lebensräume in der Wildnis oft tatsächlich fehlen – deshalb liege der Fokus verstärkt auf dem Aufbau von Reservepopulationen in menschlicher Obhut.
Hoffnung für die Zukunft
Im Gehege der Hyänen erinnert nur noch das Paar Hörner daran, dass hier vor Kurzem eine Säbelantilope hing. Der Abschuss selbst geschah hinter verschlossenen Türen – die Verfütterung aber ist öffentlich. Wer zur richtigen Zeit am Gehege vorbeikommt, kann zusehen, wie die Raubtiere den Kadaver zerlegen. Die Reaktionen seien gemischt, erzählt Tierpfleger Marco. «Manche verziehen das Gesicht. Aber viele – gerade Kinder – finden es faszinierend, so nah dran zu sein.»
Wenn solche Szenen für Aufsehen sorgen, steht einer an vorderster Front: Severin Dressen, der Direktor des Zürcher Zoos. Im warmen Licht des späten Nachmittags steht er vor der Lewa Savanne und erklärt, weshalb diese Bilder Teil einer grösseren Strategie seien und warum der Zoo darin eine unverzichtbare Rolle spiele.
«In einer perfekten Welt bräuchte es tatsächlich keine Zoos – aber wir leben nun mal nicht in einer perfekten Welt, denn die Welt steckt mitten in einer massiven Biodiversitätskrise. Wir verlieren täglich rund 150 Tierarten, viele davon unscheinbar, aber ökologisch unverzichtbar.» Deshalb brauche es moderne Zoos. Nur diese könnten zeitgleich zum Naturschutz, zum Artenschutz, zur Bildung und Forschung beitragen und damit einen Beitrag für die Erhaltung der biologischen Vielfalt leisten.
Auch die Kritik, dass Reservepopulationen aufgrund fehlender Lebensräume sinnlos seien, weist Dressen zurück. «Wenn man sagt, es sei ohnehin alles verloren, und sich dem Schicksal ergibt, könnte man tatsächlich behaupten, auch Reservepopulationen hätten keinen Zweck.» Doch Dressen sieht die Sache anders: Immer wieder gebe es Veränderungen, etwa politische Umbrüche oder Regimewechsel, die neue Möglichkeiten für den Artenschutz und Wiederansiedlungen eröffnen. «Wir müssen an diese Chancen glauben», bekräftigt Dressen.