SRF: Helen Fisher, was ist Liebe denn nun eigentlich?
Helen Fisher: Natürlich ist Liebe für jeden etwas anderes. Ich denke aber, dass jeder Mensch für Paarung und Fortpflanzung drei verschiedene Hirnsysteme besitzt (siehe Box unten). All die Nuancen der Liebe entstehen aus ihnen. Und egal, wo man auf der Welt hingeht, welche Kultur oder Region man sich anschaut, findet man diese romantische Liebe. Alle Völker haben Mythen, Legenden und Gedichte darüber – Anthropologen haben noch keine Kultur gefunden, in der es kein Verständnis romantischer Liebe gäbe.
Sie haben mal eine Maya-Legende erwähnt…
...genau, ich liebe diese Geschichte! In Guatemala gibt es einen wundervollen Tempel. Er wurde von dem grössten Sonnenkönig des grössten Stadtstaates der Maya gebaut, von Hasaw Chan K'awil. Er war über 1,80 Meter gross und Maya-Inschriften erzählen, dass er unendlich verliebt in seine Frau war. Sie starb jung und er baute einen Tempel für sie, genau gegenüber dem seinem. Und immer im Frühling und im Herbst, wenn Tag und Nacht gleich lang sind, geht die Sonne genau hinter seinem Tempel auf und taucht den ihren in seinen Schatten. Am Abend geht hinter ihrem Tempel die Sonne unter und sein Tempel steht im Schatten. Fast 1300 Jahre später berühren sich diese Liebenden immer noch von ihren Gräbern aus.
Warum haben Sie angefangen, sich mit romantischer Liebe zu befassen?
Ich wünschte, ich hätte eine sexy Antwort (lacht). Ich bin ein eineiiger Zwilling und als kleines Kind gewöhnst du dich daran, dass dich alle fragen: Mögt ihr das gleiche Essen? Habt ihr die gleichen Freunde? Also wusste ich schon lange, dass die Biologie mein Verhalten bestimmt – noch bevor ich von der wissenschaftlichen Debatte erfuhr, ob Charakterzüge angeboren oder anerzogen sind. Deshalb bin ich daran interessiert, was alle Menschen teilen, was uns allen gemeinsam ist und uns als Menschen ausmacht. Romantische Liebe ist etwas, das wir alle teilen.
Also hatten Sie keine traumatischen Erfahrungen mit der Liebe?
Ich weiss, dass viele Forscher sich für ein Feld besonders interessieren, weil sie selbst prägende Erlebnisse hatten. Aber ich hatte immer sehr viel Glück mit der Liebe. Die Männer, die ich geliebt habe, habe ich wirklich geliebt und sie haben diese Liebe erwidert. Ich interessiere mich für das Gefühl der tiefen Zuneigung, die wir alle irgendwann fühlen – sei es für andere Menschen, für Tiere, Gegenstände oder Ideen.
Kann man lieben, ohne verletzt zu werden?
Ja, ich denke schon. Wissen Sie, wenn Sie den Jungen heiraten, in den Sie sich schon in der Schule verliebt haben und sich vielleicht im Laufe ihres Lebens entscheiden, tausend verschiedene Dinge zu machen, aber immer eine sehr stabile Beziehung nur mit ihm oder ihr behalten – dann vielleicht kann man ein Leben ohne diesen tiefsten körperlichen und seelischen Schmerz der Zurückweisung geniessen. Nicht jeder Mensch erlebt das. Fast alle verlieben sich im Laufe ihres Lebens in jemanden, der ihre Liebe nicht erwidert oder irgendwann nicht mehr erwidert.
Wenn ich verlassen werde und es mir nicht weh tut – war ich dann nicht wirklich verliebt?
Wahrscheinlich nicht. Wir haben bewiesen, dass Verlassen-Werden mit körperlichen Schmerzen einher geht. Nicht nur in Hirnregionen, die mit körperlichen Schmerzen in Verbindung stehen, haben wir Aktivität gefunden, sondern auch in denjenigen für körperliche Schmerzen selbst. Gleichzeitig werden die Hirnregionen aktiv, die für tiefe Verbundenheit zuständig sind. Wenn man verlassen wird, ist sogar die selbe Region aktiv, wie wenn man gerade frisch verliebt ist – sie sorgt für die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin und gibt uns die Energie, den Fokus und die Motivation, den verlorenen Menschen wieder zurückzugewinnen.
Das heisst, wenn man verlassen wird, will man die Person nur umso mehr?
Genau. Verlassene agieren wie Heroin- oder Kokainsüchtige. Wir haben Aktivität in den Hirnregionen für Verlangen und Sucht gefunden. Unglücklich Verliebte spüren also nicht nur körperliche Schmerzen. Sie lieben die andere Person auch umso mehr. Dieser Schmerz ist die biologische Antwort auf eine schwerwiegende und gefährliche Enttäuschung – man hat eine Möglichkeit verloren sich fortzupflanzen.
Kann man das nicht irgendwie verhindern?
Wir sind nicht vollkommen hilflos. Wir haben ja schliesslich noch unsere Grosshirnrinde, mit der wir denken können. Was man machen kann, ist, nicht in eine Beziehung einzusteigen, von der man denkt, dass sie keine Zukunft hat. Wenn er oder sie zum Beispiel schon in einer anderen Beziehung ist oder auf einem anderen Kontinent lebt, dann könnte es schwer werden. Wir können uns entscheiden. Aber sobald der schlafende Hund geweckt ist und das Dopamin unser Gehirn durchdringt… dann bist du deinen Trieben ausgeliefert.
Was kann man tun, wenn man dann doch verlassen wurde?
Dann musst du dir immer vor Augen halten: Es ist eine Sucht. Eine natürliche Sucht, die sich vor Jahrmillionen entwickelt hat. Alle Menschen gehen durch das Leid, das du jetzt spürst. Das Allerwichtigste, was du als erstes tun solltest: Schmeiss alles raus! Alle Karten und Briefe und Fotos, die dich an sie oder ihn erinnern. Wenn ein Alkoholsüchtiger versucht, mit dem Trinken aufzuhören, stellt er auch keine Wodka-Flasche auf seinen Frühstückstisch. Schreib nicht, ruf nicht an, frag deine Freunde nicht nach dieser Person. Jedes Mal, wenn du die Person kontaktierst, traumatisierst du dich aufs Neue.
Sie haben mal gesagt, unser Gehirn ist so gebaut, dass man sich immer daran erinnert, was man verloren hat.
Ja, es ist erstaunlich, wie lange wir uns daran erinnern. Nehmen wir Zahnschmerzen. Wenn man eine Wurzelbehandlung hatte, wacht man normalerweise nicht eine Woche später auf und erinnert sich immer noch an den Schmerz. Aber wenn man verlassen worden ist, kann es Monate und oft auch Jahre dauern, bis man darüber hinweg ist. Ich habe mal von einem Mann in Puerto Rico gehört, der 112 Jahre alt war und gefragt wurde, was er in seinem Leben gerne anders gemacht hätte. Und alles, was er sagen konnte, war: Ich hätte gerne die beiden Frauen wieder, die mich verlassen haben. Nichts zum Klimawandel oder zu sonst jemanden in seiner Familie. Die beiden Frauen, die ihn verlassen hatten – das war das, was ihm bis zu seinem 112. Lebensjahr am wichtigsten war.
Heilt Zeit dann alle Wunden?
Ja, das haben wir mit unserer Forschung bewiesen. Man muss den Liebeskummer einfach durchstehen. Je länger der Zeitpunkt des Verlassen-Werdens der Probanden her war, desto weniger Aktivität fand sich in der Hirnregion, die für tiefe Verbundenheit zuständig ist. Es ist wissenschaftlich bewiesen: Zeit heilt alle Wunden.
Die Sichtweise eines Psychologen auf das Thema Liebeskummer und Verlassen-Werden finden Sie im Interview mit Guy Bodenmann.