«Ich wollte keine Emotionen zulassen und einfach das Interview führen, als mir die Protagonistin erzählte, wie sie zu Nacktbildern gedrängt wurde», erinnert sich Reporterin Anna Kreidler. «Aber nach dem Dreh, auf dem Weg zum Tram, musste ich mich erst mal hinsetzen. Ich habe gemerkt, wie nah mir das ging.»
Bei «rec.», dem jungen Reportageformat von SRF, ist explizit gewünscht, dass sich die ebenfalls jungen Journalistinnen und Journalisten persönlich einbringen: dass sie transparent machen, was ihnen durch den Kopf geht, was sie fühlen und wie sie arbeiten. «Dann habe ich die Kamera nochmals angestellt und beschrieben, wie ich die Situation der Protagonistin empfand», so Anna Kreidler.
Nah dran auf Reporter-Reise
Die 29-jährige Anna Kreidler taucht als Reporterin von «rec.» regelmässig in die Lebenswelten anderer junger Menschen ein.
Dabei beobachte sie gerne und viel: Was macht ihnen Freude? Wo haben sie Probleme? Wie gehen sie damit um? Aber auch: Was macht eine Begegnung mit ihr selbst? Was fühlt sie? Dies versuche sie zu reflektieren.
«Bei ‹rec.› nehme ich das Publikum mit auf meine Reporter-Reise: Ich zeige, wo ich am Anfang stehe und wo am Schluss, vielleicht hat sich meine Haltung verändert oder ich habe etwas dazugelernt.»
Reportagen aus einer Hand
Wie die anderen «rec.»-Reporterinnen und -Reporter produziert Anna Kreidler ihre Videos weitgehend selbst: von Idee und Konzept über Recherche, das Finden der Protagonistinnen und Protagonisten, Interviewführung und Videoproduktion bis zu Dramaturgie, Schnitt und Vertonung.
Unterstützt wird sie von zwei Produzentinnen. «Mit ihnen kann ich jederzeit meine Geschichten spiegeln. Sie helfen mir bei allem, was ich für meine Geschichte brauche, bis hin zur Abnahme.»
Persönlich mit den Geschichten verbunden
Magersucht, Stalking, Eigenheim – die Themen für ihre Reportagen sucht Anna Kreidler selbst aus. Das ist das Konzept bei «rec.», denn die Reporterinnen und Reporter sollen einen «gewissen Draht» zu den Lebenswelten haben, in die sie eintauchen: ein starkes Interesse oder einen persönlichen Bezug bis hin zur Betroffenheit.
Doch wie kommt sie zu ihren Themen? «Oft merke ich in meinem privaten Umfeld, da wird etwas kontrovers diskutiert. Entweder die Leute stürzen sich darauf oder sie sind skeptisch wie etwa beim Abnehmmedikament Ozempic», erklärt sie. «Das finde ich spannend, da will ich dann genauer hinschauen.»
Das Thema «kneten» – rund um die Leitfrage
Allerdings muss ein Thema auch die Zustimmung der Redaktion finden. Wie reagieren die Kolleginnen und Kollegen darauf? Schiessen sie es gleich wieder ab? Wenn es gut ankommt, wird es weiterentwickelt, oder wie Anna Kreidler sagt: «geknetet», auch im Team: Was ist wohl fürs Publikum die spannendste Perspektive darauf? Diese Leitfrage ist auch zentraler Bestandteil fürs Kurzkonzept, Story Sheet genannt, das die Reporterin erstellt.
Im Fokus: Die Protagonistinnen und Protagonisten
Pro Thema sucht Anna Kreidler mehrere junge Protagonistinnen und Protagonisten, die möglichst unterschiedliche Perspektiven in die Reportage einbringen. Sie findet sie auf verschiedenen Wegen: zum Beispiel über das Netzwerk der Redaktion oder über Aufrufe auf dem Youtube-Kanal von «SRF Dok». Ausserdem gibt es laut Kreidler zu fast jedem Thema eine Facebook-Gruppe, über die man Kontakte knüpfen kann.
«Oft melden sich auch bei heiklen Themen viele Leute», sagt Anna Kreidler. «Aber als ich dachte, zum Thema Eigenheim wird uns das Postfach geflutet, kam fast nichts.» Aus der Not heraus habe sie dann junge Menschen auf der Strasse angesprochen.
Damit sich die jungen Leute öffnen
«Es ist für die meisten aussergewöhnlich, dass jemand in ihre Privatsphäre eindringt und sie etwas von sich preisgeben», weiss Anna Kreidler. Oft sei das sehr intim. Wie schafft es die Reporterin, dass die jungen Leute von sich erzählen – vor laufender Kamera? Sie setze hier vor allem auf viel Ruhe, Transparenz und die Achtung der Privatsphäre.
Schon mehrmals habe sie erlebt, dass Leute ihr bereits beim ersten Telefonat tiefen Einblick in ihr Leben geben und dann sagen, das hätten sie noch nie jemandem erzählt. «Ich denke, es ist für sie einfacher, sich jemandem zu öffnen, den sie nicht kennen; dem sie einfach ihre Geschichte erzählen können, der zuhört und ihnen nicht sagt, was sie machen sollten.
Wohin mit den eigenen Emotionen?
Auch wenn es in Gesprächen um schwierige Themen wie Sucht oder Missbrauch gehe, versuche Anna Kreidler professionelle Distanz zu wahren: «Dann bin ich als Journalistin dort, ich bin am Arbeiten, stelle meine Fragen und lasse mich nicht zu sehr mitreissen.» Das heisse aber nicht, dass sie nicht empathisch sei. Denn ihre Emotionen kämen zeitversetzt hoch, nach dem Dreh, manchmal wache sie nachts davon auf.
Es ist niemandem geholfen, wenn ich als Journalistin mitleide.
Intensive Dreharbeiten als One-Woman-Show
Als Reporterin ist Anna Kreidler oft unterwegs «auf Dreh» bei den Protagonistinnen – dabei ist sie selbst für Kamera, Licht, Ton und Redaktion verantwortlich.
Ein Dreh dauere zwei bis vier Stunden, sagt sie, «und das sind sehr intensive Stunden, weil ich die ganze Zeit präsent sein muss.» Funktioniert der Ton? Stimmen Kameraperspektive und Licht? Wie geht es dem Protagonisten? Erzählt er offen und gut? Stellt sie selbst die richtigen Fragen? Das alles muss die Reporterin allein im Blick haben – und gleichzeitig führt sie die Kamera, in der Regel in der Hand.
Storytelling: von 10 Stunden auf 20 Minuten
Pro Geschichte sammeln sich bis zu 10 Stunden Videomaterial an. Eine «rec.»-Folge dauert aber nur rund 20 Minuten. Also ist Verdichten gefragt. Dafür sucht Anna Kreidler zunächst nach den aussagekräftigsten Szenen. Den Aufbau der Reportage erarbeitet sie im engen Austausch mit den Produzentinnen. Entsprechend schneidet oder «verzopft» sie das Material. Und immer wieder heisst es feilen und kürzen.
Dann fehlt noch der gesprochene Text, das sogenannte Voice over. Hier überlege sie, wo es eine Akzentuierung brauche oder ein Szenenwechsel fürs Publikum nicht ganz klar sei. Zum Ton gehören auch die Musik oder Klänge, die das Bild und/oder die Sprachelemente unterstützen. Besonders gelungen sei ihr das gesamte Storytelling beim «rec.» über «Freiwilligenarbeit im Hospiz».
Im Dialog mit der Community
Auf jede «rec.»-Reportage folgt eine Woche nach der Veröffentlichung eine sogenannte «Q&A»-Ausgabe für den Dialog mit der Community. Darin gehen die jeweiligen Reporterinnen und Reporter auf Rückmeldungen und offene Fragen zu ihrer Reportage ein.
«Wer einen Kommentar schreibt», so Anna Kreidler, «soll auch merken, dass er gesehen und aufgenommen wird – auch wenn es negatives Feedback ist.»
Aus Überzeugung bei «rec.»
Anna Kreidler arbeitet mit Herzblut für «rec.»: «Ich lerne so viele spannende Orte und Menschen kennen. Junge Leute mit unterschiedlichen Einstellungen, die teils ganz anders leben als ich. Da hineinzuschauen und das Publikum mitnehmen zu dürfen – das ist mir sehr viel wert.»