«Mit Long Covid oder dem schweren Verlauf der Krankheit, ME/CFS, haben Betroffene bei den IV-Gutachterstellen eigentlich schon verloren», sagt Neurologin Maja Strasser.
In ihrer Facharztpraxis in Solothurn betreut sie 160 Patientinnen und Patienten mit Long Covid. Es ist eine der wenigen Praxen in der Schweiz, die spezialisiert ist auf Long Covid. Wegen Überlastung nimmt sie keine neuen Patientinnen und Patienten mehr auf.
«IV-Gutachten bilden komplexes Krankheitsbild nicht ab»
Sie behandle sehr viele schwer kranke Patientinnen und Patienten, sagt Neurologin Maja Strasser. Aber keine Patientengruppe sei aufwendiger als diejenige mit Long Covid und ME/CFS, der sogenannten Myalgischen Enzephalomyelitis, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung, die zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt.
Das Krankheitsbild sei wahnsinnig komplex, die Begleitung der Patienten anspruchsvoll. Viele seien zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Die IV hingegen habe Mühe, das Krankheitsbild einzuordnen. Die Gutachten, die sie bislang von ihren Patienten gesehen habe, seien mangelhaft und erfassten das Wesentliche nicht, so Strasser.
Belastungsintoleranz: zentrales Symptom des schweren Krankheitsverlaufs
Eine krankhafte Erschöpfung und Belastungsintoleranz seien die zentralen Aspekte des schweren Krankheitsverlaufs, sagt Neurologin Strasser.
Würden Betroffene die Schwelle der Belastungsintoleranz überschreiten, komme es ein paar Tage später zu einem sogenannten Crash, einer teils massiven Symptomverschlechterung, die sogar irreversibel sein könne.
Expertin fordert: IV muss Gutachterprozesse für Long Covid anpassen
«Noch nie habe ich ein Gutachten gesehen, das den zentralen Aspekt des schweren Krankheitsverlaufs – die Belastungsintoleranz – auch nur annähernd gewürdigt hat», sagt Expertin Maja Strasser gegenüber «Kassensturz». Gutachten, welche dieses für Patientinnen und Patienten so limitierende Symptom nicht abbildeten, seien «nichts wert», sagt sie.
Gutachten für Betroffene von Long Covid und ME/CFS müssten Qualitätskriterien entsprechen, die sich am wissenschaftlichen Konsens orientieren. Dafür brauche es angepasste Fragebögen und Abklärungstools. Nicht Depressionsfragebögen, welche die IV häufig anwende und mit denen mögliche psychische Erkrankungen diagnostiziert werden könnten.
Patienten-Vertreterin: «IV schreibt Long Covid-Patienten gesund»
5000 Menschen mit Long Covid haben sich bislang bei der IV angemeldet. Gerade mal rund vier Prozent von ihnen haben laut dem Monitoring der IV zu Long Covid eine Rente erhalten. Wobei die Behörde nicht unterscheidet zwischen ganzen und halben Renten. Aufgrund eines politischen Vorstosses muss die IV sämtliche Menschen mit Long Covid registrieren.
Dass die positiven Rentenentscheide bis jetzt so gering ausfallen, ist für Manuela Bieri, Vorstandsmitglied von Long Covid Schweiz, ein Zeichen dafür, «dass die meisten gesundgeschrieben werden». Viele Mitglieder der Selbsthilfegruppe seien derzeit mit ihrem Gesuch in Revision.
Kritik an überlanger Verfahrensdauer
Ein weiterer Vorwurf: Von der Anmeldung bis zu einem Entscheid dauere es viel zu lange. Allein auf einen Gutachtertermin warte man jahrelang, sagt Manuela Bieri. Seit über zwei Jahren in der Schwebe ist zum Beispiel die 40-jährige Miriam Hürster.
Das ehemalige Kadermitglied einer grossen Versicherung ist gemäss Arztbericht schwer behindert. Bei ihr hat Long Covid den schweren Verlauf von ME/CFS genommen. Die Taggeldversicherung ist ausgelaufen, der Job wurde ihr gekündigt. Auf einen Gutachtertermin, geschweige denn auf einen Entscheid der IV, wartet sie bis jetzt vergeblich.
Polydisziplinäre Gutachterstellen überlastet
Auf Nachfrage hat ihr die IV im Herbst 2023 geschrieben, es bestehe derzeit ein «grösserer Rückstau auf der Verteilplattform». Wann ihr Dossier einer Gutachterstelle zugeteilt werden könne, sei «von den Kapazitäten der Gutachterstelle abhängig».
Werde ich dereinst selbstbestimmt wohnen können?
Der IV-Entscheid sei zentral für andere Verfahren, sagt die Betroffene Miriam Hürster. «Zum Beispiel: Werde ich dereinst selbstbestimmt wohnen könnten?» Und auch, ob andere Stellen Zahlungen leisten, hängt vom Entscheid der IV ab.
Sinnlose Mitwirkungspflichten anstatt Entscheide
Patientenanwalt Sebastian Lorentz sagt, die Idee des Sozialversicherungssystems sei eine ganz andere: Ein einfaches Verfahren, das keine hohen Anforderungen stellt und den Betroffenen hilft. Bei diesen IV-Verfahren werde «das hehre Ziel des Gesetzgebers aber nicht eingehalten».
Für Betroffene sei es unerträglich, dass durch teils sinnlose Mitwirkungspflichten das Verfahren in die Länge gezogen werde. Zum Beispiel für Therapien, die dem Krankheitsbild nicht gerecht würden. Definitive Entscheide zu Long Covid seien in seiner Kanzlei rar. Er stelle fest: «Die IV hat Schwierigkeiten mit dem Krankheitsbild Long Covid.»
Anstatt zu entscheiden, empfiehlt IV Betroffenen Sozialhilfe
Was das für die Betroffenen bedeuten kann, zeigt das Beispiel der 37-jährigen Nicole Spychiger: Ihr Jobausfall und die Krankheit haben das Vermögen der vierköpfigen Familie weggefressen. Eine Wiedereingliederung sei bei ihr nicht möglich, schrieb ihr die IV. Job und Taggeldversicherung hat sie seit Dezember 2023 nicht mehr.
Nur dank einer Spendenaktion von Freunden kann sich die Familie über Wasser halten. Die IV hat ihr empfohlen, sich bei der Sozialhilfe zu melden. «Ich dachte immer, wir seien gut versichert. Und dann fällst du längere Zeit aus, mit einer Krankheit, die neu und nicht nachweisbar ist, und du fällst überall runter.»