«Ich schaue jeden Tag vier- oder fünfmal nach, ob es in der App neue Kleider gibt, die mir gefallen», erzählt Naomi. Die 18-Jährige bestellt regelmässig beim chinesischen Online-Modehändler, der seit anderthalb Jahren auch in der Schweiz aktiv ist. Rund 150 Stücke von Shein liegen schon bei ihr im Schrank, schätzt die junge Frau.
Naomis letzte Bestellung: Ein Trainer, eine Hose, zwei Tops, falsche Wimpern und eine Handtasche – für gerade einmal 62 Franken. Die extrem günstigen Preise stossen bei vielen Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten auf Anklang: Laut dem App-Dienstleister Airnow wurde die Shein-App hierzulande allein im Jahr 2021 über 330’000 Mal heruntergeladen – mehr als die Apps von H&M und Migros zusammen.
Täglich Tausende neuer Kleidungsstücke
Die Modemarke setzt fürs Marketing auf Instagram, Tiktok & Co.: Influencerinnen erhalten Kleider gratis, wenn diese sich online darin präsentieren. Und auch viele zahlende Kundinnen und Kunden machen auf Social Media Werbung, mit sogenannten Shein-Hauls: Videos, in denen sie ihre Kleider vor der Kamera auspacken und anprobieren.
Die Auswahl an Kleidern und Accessoires ist gigantisch: Hunderttausende Artikel sind online erhältlich, und laut einem Bericht der NGO Public Eye kommen täglich bis zu 6500 neue Produkte dazu. Shein lässt zunächst nur wenige hundert Stück produzieren und analysiert genau, welche Modelle besonders gut ankommen.
Billigpreise befeuern Wegwerf-Mentalität
Die Westschweizer Konsumentensendung «A Bon Entendeur» probiert es aus: Moderatorin Linda Bourget bestellt einen grünen Hosenanzug. Dank eines Rabatts bezahlt sie nur 31 Franken, inklusive Versand. Eine Schneiderin prüft Blazer und Hose genau. Ihr fällt die bescheidene Qualität auf: «Der Blazer hat kein Innenfutter, und die Nähte sind ganz simpel verarbeitet, nur mit der Overlockmaschine. So würde ich nicht arbeiten!» Die Einschätzung der Schneiderin ist klar: «Kleider von Shein trägt man zwei-, dreimal, und dann legt man sie weg.» Die niedrige Qualität und die günstigen Preise leisten dem Trend hin zur Wegwerfmode Vorschub.
Herstellen lässt Shein viele der Billigkleider in der südchinesischen Millionenstadt Guangzhou, meist in kleinen Zulieferbetrieben. In so einer Werkstatt arbeitet auch Fang, eine 35-jährige Schneiderin mit zehn Jahren Erfahrung. Sie und ihr Mann haben ihr Dorf verlassen, um hier Arbeit zu finden. Ihre drei Kinder mussten sie zurücklassen, weil neben der Arbeit keine Zeit für sie bleibt.
«Ich fange um 8 Uhr morgens an und arbeite bis 18 Uhr, mit 1,5 Stunden Mittagspause», erzählt die Schneiderin. Dazu kommen wochentags noch weitere drei Überstunden am Abend, von 19 bis 22 Uhr. 75 Stunden Arbeit pro Woche, nur ein Tag frei pro Monat – das ist auch in China nicht legal, dennoch berichten viele Arbeitskräfte in Shein-Zulieferbetrieben Ähnliches.
Die Zustände bei der Produktion von Shein-Kleidern kritisiert Public Eye scharf. Die Schweizer NGO hat in China dazu recherchiert. «Shein hat die Methoden der Fast-Fashion-Giganten wie H&M oder Zara auf die Spitze getrieben», erklärt Géraldine Viret von Public Eye.
«Das Tempo ist horrend: Vom Entwurf bis zum fertigen Kleidungsstück im Onlineshop dauert es bei Shein nur noch ein paar Tage. Unter diesem Druck leiden alle in der Herstellungskette, vor allem die Arbeitnehmenden.»