Andreea B. arbeitet Vollzeit an einer Tankstelle im Kanton Waadt. Doch ihr Lohn reicht nur knapp, um die Lebenshaltungskosten zu decken: «Wenn ich die Rechnungen bezahlt habe, die Miete, all das, dann bleibt nichts mehr übrig.» Obwohl sie Leiterin der Tankstelle ist, erhält sie nur den Mindestlohn. Nach Abzügen bleiben ihr wenig mehr als 4000 Franken.
Wenn ich die Rechnungen bezahlt habe, bleibt nichts mehr übrig.
Vor zwei Jahren trennte sie sich von ihrem Partner. Sie haben ein gemeinsames Sorgerecht, und die beiden Kinder leben jede zweite Woche bei ihr.
Seit der Trennung muss Andreea B. alle Ausgaben aus ihrem Einkommen bestreiten. Für die junge Mutter sind ihre Kinder das Wichtigste. Sie selber komme zurecht, sagt sie, sie beisse einfach die Zähne zusammen.
Lohn reicht nicht
Die Zähne zusammenbeissen und den Gürtel enger schnallen, das muss auch die Schwester von Andreea B. Lidia studiert an der Universität Lausanne. Seit Anfang Jahr wohnt sie bei ihrer Schwester in Roche. Ohne sie käme sie nicht durch, sagt Lidia J.
Sie arbeitet Teilzeit, ihr Lohn schwankt zwischen 600 und 1500 Franken pro Monat. Sie zahlt ihrer Schwester 500 Franken an die Miete, der Rest geht weg für Essen, Telefon und Versicherungen. Doch es reicht nicht für alles, vor allem in den Monaten, in denen Lidia J. nur 600 Franken verdient, kann sie sich kein SBB-Abo leisten. Deshalb kommen Bussen fürs Schwarzfahren dazu. Sie sagt: «Ich habe keine Wahl, ich kann nicht zu Fuss von Roche nach Lausanne gehen.»
Es gibt immer mehr Menschen, die vor der Wahl stehen: Zahle ich die Rechnungen oder kaufe ich Lebensmittel.
Mehr Anfragen bei Schuldenberatungen
Bei der Caritas Budgetberatung haben Anfragen seit Anfang Jahr um 30 Prozent zugenommen. Lorenz Bertsch, Bereichsleiter bei der Caritas Sozial- und Schuldenberatung St. Gallen, stellt fest, dass immer mehr Menschen mit finanziellen Engpässen kämpfen. Die Situation von sogenannte Working Poor habe sich durch die höheren Kosten für Energie, Strom und Krankenkassen verschlechtert und oftmals hätten sie keinen Teuerungsausgleich bekommen.
Er warnt: «Es gibt immer mehr Menschen, die vor der Wahl stehen: Zahle ich die Rechnungen oder kaufe ich Lebensmittel.»
Auch Andreea B. kämpft mit steigenden Lebensmittelpreisen. Im letzten Jahr sind die Preise bei einigen Grundnahrungsmitteln geradezu explodiert. Ihr Budget beträgt 800 Franken, mehr liegt nicht drin. Sie ist froh, kann sie abgelaufene Waren vom Tankstellenshop nach Hause nehmen.
Es kann nicht sein, dass jemand, der 100 Prozent in der Industrie arbeitet, mit 3500 Franken eine vierköpfige Familie durchbringen muss.
Diskussion zu Mindestlöhnen gefordert
In der Caritas Schuldenberatung berät Lorenz Bertsch Menschen, die voll arbeiten und deren Einkommen trotzdem knapp über der Armutsgrenze liegt. Trotz wenig Spielraum erhalten sie keine staatliche Unterstützung.
In der aktuellen Situation führe die Beratung nicht immer zum Ziel, auch wenn man irgendwo noch 50 Franken einsparen könne. Deshalb fordert Lorenz Bertsch eine Diskussion zu Mindestlöhnen: «Es kann nicht sein, dass jemand, der 100 Prozent in der Industrie arbeitet, mit 3500 Franken eine vierköpfige Familie durchbringen muss.»