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Sturz im Pflegeheim «Wieso hat die Pflege meine Frau im Rollstuhl nicht fixiert?»

Wie stark dürfen Pflegeheime die Bewegungsfreiheit von Bewohnenden einschränken?

Die betagte Frau und ihr Mann kamen mit dem Schrecken davon. Die Seniorin erholte sich in einem Pflegeheim von einer Operation. Nach der Körperpflege – die Pflegefachfrauen hatten das Zimmer verlassen – versuchte sie, aus dem Rollstuhl aufzustehen.

Weil ihr die nötige Kraft dazu fehlte, stürzte die Frau. Verletzungen trug sie glücklicherweise keine davon. Doch ihr Mann ist verunsichert. «Man hätte meine Frau im Rollstuhl fixieren sollen, damit so etwas nicht passieren kann», findet er.

Patientinnen, Patienten dürfen nur in Ausnahmefällen fixiert werden …

Dass Patientinnen und Patienten in Alters- und Pflegeheimen zum Beispiel mit Bettgittern, Klingelmatten, Sendern, Schranken, verschlossenen Türen oder Liftcodes in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, ist an der Tagesordnung. Solche Eingriffe sind aber nur unter strengen Voraussetzungen zulässig. Geregelt sind diese Voraussetzungen im Erwachsenenschutzrecht im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB, Artikel 382 bis 387).

Das steht im Gesetz

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Einschränkung der Bewegungsfreiheit (Art. 383 Zivilgesetzbuch)

1 Die Wohn- oder Pflegeeinrichtung darf die Bewegungsfreiheit der urteilsunfähigen Person nur einschränken, wenn weniger einschneidende Massnahmen nicht ausreichen oder von vornherein als ungenügend erscheinen und die Massnahme dazu dient:

1. eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die körperliche Integrität der betroffenen Person oder Dritter abzuwenden; oder

2. eine schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens zu beseitigen.

2 Vor der Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird der betroffenen Person erklärt, was geschieht, warum die Massnahme angeordnet wurde, wie lange diese voraussichtlich dauert und wer sich während dieser Zeit um sie kümmert. Vorbehalten bleiben Notfallsituationen.

3 Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird so bald wie möglich wieder aufgehoben und auf jeden Fall regelmässig auf ihre Berechtigung hin überprüft.

Protokollierung und Information (Art. 384 Zivilgesetzbuch)

1 Über jede Massnahme zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird Protokoll geführt. Dieses enthält insbesondere den Namen der anordnenden Person, den Zweck, die Art und die Dauer der Massnahme.

2 Die zur Vertretung bei medizinischen Massnahmen berechtigte Person wird über die Massnahme zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit informiert und kann das Protokoll jederzeit einsehen.

3 Ein Einsichtsrecht steht auch den Personen zu, welche die Wohn- oder Pflegeeinrichtung beaufsichtigen.

Konkret: Bewegungseinschränkende Massnahmen sind nur zulässig, wenn sich die Patientin oder der Patient nicht mehr orientieren kann, sich selbst oder andere stark gefährdet oder das Gemeinschaftsleben schwer beeinträchtigt.

Zudem muss eine bewegungsbeschränkende Massnahme immer verhältnismässig sein: Das bedeutet, die Verantwortlichen müssen die im konkreten Fall notwendige, aber am wenigsten einschneidende Lösung wählen. Unzulässig sind einschränkende Massnahmen aus Kostengründen, oder weil eine Patientin, ein Patient ständig nervt.

 … und müssen angehört werden

Bevor eine bewegungsbeschränkende Massnahme umgesetzt wird, muss sie dem betroffenen Patienten erklärt werden. Dieses Gespräch muss mit jeder Patientin geführt werden. Auch mit Patientinnen und Patienten mit kognitiven Einschränkungen oder mit Menschen, die als urteilsunfähig gelten. Darüber hinaus müssen die Angehörigen informiert werden.

Ist Ruhigstellen mit Medikamenten erlaubt?

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Im Pflegealltag werden statt bewegungsbeschränkender Massnahmen oftmals beruhigende Medikamente eingesetzt. Erlaubt ist der Einsatz solcher Medikamente gegen den Willen der Betroffenen aber nur im Rahmen eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Einrichtung.

Das bedeutet: Eine Alters- und Pflegeeinrichtung benötigt das ausdrückliche Einverständnis einer Bewohnerin, eines Bewohners oder seiner Angehörigen, damit es solche Medikamente verabreichen darf.

Pflegeeinrichtungen sollten Grundsätze erarbeiten

In welcher Situation eine Bewegungseinschränkung zulässig und – wie im oben genannten Beispiel– vielleicht sinnvoll wäre, ist schwierig zu beurteilen und muss individuell geprüft werden. «Bettgitter oder Gurte sind nicht immer eine gute Lösung», weiss der ehemalige Zürcher Stadtarzt Albert Wettstein.

Wettstein ist heute Leiter der Fachkommission der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) und in dieser Funktion häufig mit diesem Thema konfrontiert. «Es kommt immer wieder vor, dass sich vor allem demente Menschen aus einer Einschränkung zu befreien versuchen und sich dabei schwer verletzen», weiss er. Deshalb sei ein sorgfältiges Abwägen zwischen Nutzen und Risiken wichtig und sollte beim Eintritt einer Patientin oder eines Patienten besprochen werden.

Hardy Landolt, Professor für Pflegerecht, teilt diese Ansicht. Er rät Pflegeeinrichtungen, in ihren Betriebs-Reglementen allgemeine Grundsätze für bewegungsbeschränkende Massnahmen zu erarbeiten. «So können sie eine klare Vorstellung entwickeln, wie sie in solchen Situationen vorgehen können und dürfen».

Weitere Informationen

Espresso, 3.4.25, 8:10 Uhr

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