Wenn an Demenz erkrankte Menschen sogenannt verhaltensauffällig sind, kommen Heime schnell an ihre Grenzen. Beruhigungsmittel sind dann oft das erste Mittel der Wahl. Der ausgebildete Pflegefachmann Marc André hat das in seinem Berufsalltag oft erlebt. Er hat zehn Jahre in Alters- und Pflegeheimen gearbeitet: «Es geht nicht darum, dass wir es einfacher hätten bei der Arbeit. Sondern es fehlt schlicht die Zeit.»
Wie oft Medikamente zur Beruhigung in Heimen eingesetzt werden, weiss Max Giger. Der Mediziner und ehemalige Vorstand der Schweizerischen Ärztevereinigung FMH wertete die Daten von über 600 Pflegeheimen in der Deutschschweiz und im Tessin aus. Die Zahlen erschreckten selbst ihn: 37 Prozent aller, die in einem Pflegeheim leben, bekommen ein Beruhigungsmittel, ein sogenanntes Neuroleptikum *.
Max Giger ortet ebenfalls beim Pflegepersonalmangel einen der Gründe für den häufigen Medikamenteneinsatz mit Beruhigungsmittel. «Wenn man das Personal nicht hat, sind Medikamente das Billigste», sagt Giger. Arzneimittel würden dann zu einer pharmakologischen Freiheitsbeschränkung.
Demente landen in der Alterspsychiatrie
Etwa 150'000 Menschen leben in der Schweiz in einem Pflege- oder Altersheim. Die Hälfte davon, so schätzen Fachleute, sind an Demenz erkrankt. Wenn sie jedoch andere zu sehr stören oder aggressiv werden und Medikamente nichts mehr nützen, gibt es kaum Alternativen – und es bleibt meist nur noch die Alterspsychiatrie, die sogenannte Gerontopsychiatrie. Dort sollen sie medikamentös neu eingestellt und damit ruhiger werden. «Leute, die vorher den Drang hatten, sich immer zu bewegen, sitzen nachher im Rollstuhl», erzählt Ex-Pfleger Marc André.
Der aktuelle Fachkräftemangel hat das Ganze noch verschärft. Das fehlende Personal sei das eine, sagt Heidi Zeller vom Kompetenzzentrum Demenz der Fachhochschule Ost. Doch generell seien die Heime in der Schweiz zu wenig gerüstet: «Die Angebote für die Betroffenen sind wirklich nicht ausreichend vorhanden. Die Betreuung ist sehr intensiv und damit teuer. Ich bekomme immer wieder gesagt, dass die Heime an den Anschlag kommen», sagt Heidi Zeller.
Die Sturzanfälligkeit ist mit Neuroleptika 40 Prozent höher. Das führt zu Frakturen und dann zu teuren Operationen.
Doch wenn betagte Menschen in den Heimen statt betreut mit Medikamenten beruhigt werden, kostet das letztlich mehr. Auch das hat Max Giger berechnet: Die Folgekosten seien gravierend. «Die Sturzanfälligkeit ist mit Neuroleptika 40 Prozent höher. Das führt zu Frakturen und dann zu teuren Operationen», sagt Max Giger.
Die Situation ist für alle schwierig und unbefriedigend: für die Betroffenen, deren Angehörige, die Heime und auch für das Pflegepersonal. Pflegefachmann Marc André hat die Konsequenzen gezogen und ist ausgestiegen. Doch die Frage bleibt: Wie kann dafür gesorgt werden, dass alte, bedürftige Menschen möglichst gut betreut werden?
Im «Kassensturz» nimmt heute Abend Markus Leser Stellung. Er ist Geschäftsführer von Curaviva, dem Verband der Schweizer Pflege- und Altersheime.
* Arzneistoff aus der Gruppe der Psychopharmaka, die primär anti-psychotisch, aber auch sedierend und den Brechreiz verhindernd wirken. Sedierung bei Unruhezuständen oder Anspannungszuständen bei älteren Patienten (Off-Label-Use). (Quelle: Pschyrembel)