Der 76-jährige Kurt Müller gilt im Pflegeheim zwar als gesellig und freundlich, aber seine Krankheit Demenz mache ihn zuweilen auch unruhig und unwirsch. Einmal soll er eine Pflegerin gebissen haben. Diese Klagen hört Angela Müller im Pflegeheim über ihren Vater. «Es waren Situationen, in denen er sich nicht formulieren konnte; man muss einfach wissen, wie man mit ihm umgehen muss», sagt Angela Müller. Das Heim schickt Kurt Müller vorübergehend in die Alterspsychiatrie. Ziel: eine medikamentöse Anpassung, damit er ruhiger wird.
Kurt Müller kommt im Juni 2022 in die Psychiatrische Klinik St. Urban (LU). Was er danach in der Psychiatrie erlebt, können seine Angehörigen nur erahnen und zumindest einen Teil davon im 71-seitigen Rapport der Klinik nachlesen. Angela Müller zitiert Ausschnitte aus dem Klinik-Rapport: «Er tobte. Er weinte. Er lag am Boden … wir haben ihn liegen lassen. Wir sind nur rasch schauen gegangen.»
Er wurde quasi mit Medikamenten vollgepumpt. Sie haben ihn pharmakologisch flachgelegt.
Ihr Vater muss zunehmend unruhig gewesen sein, entnimmt Angela Müller dem Rapport. Am Abend müsse es eskaliert sein. Bereits wenige Stunden nach seinem Eintritt wird Kurt Müller ins Isolationszimmer gebracht. «Wurde aufgrund von Fremdaggressivität (…) mit Securitas ins Isozimmer gebracht: Patient spuckt und schlägt», heisst es im Rapport. Er versucht zu entweichen. Mehrere Pflegende halten ihn zurück.
Kurt Müller bekommt sogenannte Neuroleptika, Antipsychotika, die auch als Beruhigungsmittel eingesetzt werden. Zudem Temesta, ein Benzodiazepin, das rasch süchtig machen kann. Der pensionierte Arzt Max Giger, der im Vorstand der Schweizerischen Ärztevereinigung FMH war, kritisiert: «Kurt Müller wurde quasi mit Medikamenten vollgepumpt. Sie haben ihn pharmakologisch flachgelegt». Giger war zudem lange in der eidgenössischen Arzneimittelkommission.
Die Pflege rapportiert in den folgenden Tagen: Kurt Müller sei schläfrig und müde, immer noch unkooperativ bei der Körperpflege, immer noch gereizt und agitiert. Kurz darauf wird er als weniger aggressiv beschrieben, er habe auch gelacht und wirke zufrieden. Kurt Müller bleibt aber im Isolationszimmer.
Verdacht: Schlaganfall
Am zehnten Tag schlägt die Pflege Alarm: Kurt Müller sei nicht mehr ansprechbar, Verdacht: Schlaganfall. Er wird notfallmässig ins Spital eingewiesen. Dort sieht ihn Tochter Angela Müller das erste Mal seit der Einlieferung in die psychiatrische Klinik wieder. Im Isolationszimmer habe sie den Vater nicht besuchen dürfen, sagt sie.
Angela Müller fotografiert ihren Vater. Der Vergleich zum Foto, das drei Tage vor seinem Klinikeintritt gemacht wurde, ist augenfällig. Max Gigers Kritik ist massiv: «Da wurde gewurstelt. Das ist keine gute Medizin.»
Ruhig gestellt
Kurt Müller hatte keinen Schlaganfall und wird ein paar Stunden später vom Spital nach St. Urban zurückgebracht. Dort kommt er wieder ins Isolationszimmer. Erst einen Tag später wird er laut Klinik-Rapport «entisoliert». Nach insgesamt vier Wochen Psychiatrie wird Kurt Müller entlassen – im Rollstuhl. Er hat offene Wunden, sogenannte Dekubiti, an den Fersen. Er kann nicht mehr selbständig essen und trinken. Was ihm genau widerfahren ist, kann er krankheitsbedingt nicht erzählen. «Er hat nur geweint», sagt seine Tochter.
Kurt Müller lebt heute wieder im selben Pflegeheim, wo er vorher war. Und Tochter Angela Müller hofft, dass er dort nun auch bleiben darf.