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Angehörige klagen an: Unwürdiger Umgang mit demenzkrankem Vater
Aus Kassensturz vom 25.01.2023.
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Alterspsychiatrie Angehörige klagen an: Unwürdiger Umgang mit demenzkrankem Vater

Vier Wochen in der Psychiatrie, elf Tage davon im Isolationszimmer, hinterlassen bei einem 76-Jährigen tiefe Spuren.

Der 76-jährige Kurt Müller gilt im Pflegeheim zwar als gesellig und freundlich, aber seine Krankheit Demenz mache ihn zuweilen auch unruhig und unwirsch. Einmal soll er eine Pflegerin gebissen haben. Diese Klagen hört Angela Müller im Pflegeheim über ihren Vater. «Es waren Situationen, in denen er sich nicht formulieren konnte; man muss einfach wissen, wie man mit ihm umgehen muss», sagt Angela Müller. Das Heim schickt Kurt Müller vorübergehend in die Alterspsychiatrie. Ziel: eine medikamentöse Anpassung, damit er ruhiger wird.

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Angela Müller, Tochter: «Diese Rapporte zu lesen war heftig.»
Aus Kassensturz vom 24.01.2023.
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Kurt Müller kommt im Juni 2022 in die Psychiatrische Klinik St. Urban (LU). Was er danach in der Psychiatrie erlebt, können seine Angehörigen nur erahnen und zumindest einen Teil davon im 71-seitigen Rapport der Klinik nachlesen. Angela Müller zitiert Ausschnitte aus dem Klinik-Rapport: «Er tobte. Er weinte. Er lag am Boden … wir haben ihn liegen lassen. Wir sind nur rasch schauen gegangen.»

Er wurde quasi mit Medikamenten vollgepumpt. Sie haben ihn pharmakologisch flachgelegt.
Autor: Max Giger Ehemaliges Mitglied Arzneimittelkommission

Ihr Vater muss zunehmend unruhig gewesen sein, entnimmt Angela Müller dem Rapport. Am Abend müsse es eskaliert sein. Bereits wenige Stunden nach seinem Eintritt wird Kurt Müller ins Isolationszimmer gebracht. «Wurde aufgrund von Fremdaggressivität (…) mit Securitas ins Isozimmer gebracht: Patient spuckt und schlägt», heisst es im Rapport. Er versucht zu entweichen. Mehrere Pflegende halten ihn zurück.

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Max Giger, Arzt: «Dieser Mann war pharmakologisch total sediert.»
Aus Kassensturz vom 24.01.2023.
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Kurt Müller bekommt sogenannte Neuroleptika, Antipsychotika, die auch als Beruhigungsmittel eingesetzt werden. Zudem Temesta, ein Benzodiazepin, das rasch süchtig machen kann. Der pensionierte Arzt Max Giger, der im Vorstand der Schweizerischen Ärztevereinigung FMH war, kritisiert: «Kurt Müller wurde quasi mit Medikamenten vollgepumpt. Sie haben ihn pharmakologisch flachgelegt». Giger war zudem lange in der eidgenössischen Arzneimittelkommission.

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Legende: SRF

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Die Pflege rapportiert in den folgenden Tagen: Kurt Müller sei schläfrig und müde, immer noch unkooperativ bei der Körperpflege, immer noch gereizt und agitiert. Kurz darauf wird er als weniger aggressiv beschrieben, er habe auch gelacht und wirke zufrieden. Kurt Müller bleibt aber im Isolationszimmer.

Stellungnahme Psychiatrische Klinik St. Urban

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«Kassensturz» wollte von der Psychiatrischen Klinik St. Urban eine Stellungnahme zum Fall von Kurt Müller und hat Jochen Mutschler, den Chefarzt Stationäre Dienste, auch zu einem Studiogespräch eingeladen. Die Angehörigen haben die Klinikleitung von ihrer Schweigepflicht entbunden.

Die Klinikleitung verweist jedoch auf den Persönlichkeitsschutz und will sich nicht äussern. Jochen Mutschler, Chefarzt in St. Urban, schreibt: «Die Luzerner Psychiatrie AG (lups) will sich aus datenschutz- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen nicht öffentlich zu spezifischen Patientinnen und Patienten äussern.»

Verdacht: Schlaganfall

Am zehnten Tag schlägt die Pflege Alarm: Kurt Müller sei nicht mehr ansprechbar, Verdacht: Schlaganfall. Er wird notfallmässig ins Spital eingewiesen. Dort sieht ihn Tochter Angela Müller das erste Mal seit der Einlieferung in die psychiatrische Klinik wieder. Im Isolationszimmer habe sie den Vater nicht besuchen dürfen, sagt sie.

Angela Müller fotografiert ihren Vater. Der Vergleich zum Foto, das drei Tage vor seinem Klinikeintritt gemacht wurde, ist augenfällig. Max Gigers Kritik ist massiv: «Da wurde gewurstelt. Das ist keine gute Medizin.»

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Ruhig gestellt

Kurt Müller hatte keinen Schlaganfall und wird ein paar Stunden später vom Spital nach St. Urban zurückgebracht. Dort kommt er wieder ins Isolationszimmer. Erst einen Tag später wird er laut Klinik-Rapport «entisoliert». Nach insgesamt vier Wochen Psychiatrie wird Kurt Müller entlassen – im Rollstuhl. Er hat offene Wunden, sogenannte Dekubiti, an den Fersen. Er kann nicht mehr selbständig essen und trinken. Was ihm genau widerfahren ist, kann er krankheitsbedingt nicht erzählen. «Er hat nur geweint», sagt seine Tochter.

Kurt Müller lebt heute wieder im selben Pflegeheim, wo er vorher war. Und Tochter Angela Müller hofft, dass er dort nun auch bleiben darf.

Was erleben Pflegende in ihrem Alltag?

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«Kassensturz» fragt bei Pflegekräften aus der Alterspsychiatrie nach:

A.L., Pflegefachmann HF Psychiatrie: «Es gibt viele Alterspatienten, die am Bett angebunden, sprich fixiert werden, bei denen das immer wieder gemacht wird, über Tage, über Wochen. Das ist leider kein Einzelfall.»

«Warum macht man das?» (Zwischenfrage Journalistin)

«Weil man zu wenig geschultes Personal hat und weil der Personalschlüssel zu knapp ist. Meistens betreuen 1 bis 2 Leute 10 bis 15 Demenzerkrankte. Da geht es nicht anders als sie medikamentös zu sedieren, sie im Zimmer einzuschliessen oder sie anzubinden.»

S.M, Pflegefachfrau HF Psychiatrie: «Werden Leute sediert, um mehr Ruhe zu haben(Frage Journalistin)

«Ja, natürlich. Das darf ich ja nicht laut sagen, aber das ist ein Fakt. Man weiss, was man macht, es ist nicht gut, aber du hast keine andere Möglichkeit … Man zweifelt ja auch immer an sich und denkt sich, wie konnte das passieren.»

Zu diesen Aussagen nimmt die Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie wie folgt Stellung:

1) Uns sind Fälle, in denen Alterspatientinnen und -patienten über Tage oder gar Wochen hinweg am Bett fixiert werden, nicht bekannt. Generell sollten Fixierungen möglichst vermieden werden und nur in absoluten Ausnahmefällen (ultima ratio) und für eine sehr beschränkte Zeit vorgenommen werden.

Demenz hat eine lange Zeit der Progression, manchmal 10-15 Jahre. Vor allem in der späten Phase einer Demenzerkrankung können psychiatrische Symptome wie Agitation, psychotische Symptome, Angst und nächtliche Unruhe zunehmen. Die Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie halten klar fest, dass zu deren Behandlung in erster Linie nicht-pharmakologische Interventionen eingesetzt werden sollen. Wenn diese nicht ausreichen, können Medikamente eingesetzt werden, um die Behandlung, Pflege und Betreuung zu gewährleisten und um Selbst- und Fremdgefährdung zu vermeiden.

Die Umsetzung nicht-pharmakologischer Interventionen (z. B. Validationstherapie, Basale Therapien, Bewegungsförderung, Aktivierungstherapie u.a.) benötigt pflegerisches, therapeutisches und medizinisches Fachpersonal. Es ist Aufgabe der Kliniken und der Pflegeheime, das Fachpersonal sowohl im benötigten Personalschlüssel als auch mit der notwendigen Qualifikation zur Verfügung zu stellen. Wenn dies nicht der Fall ist, dann steigt das Risiko von freiheitseinschränkenden Massnahmen oder medikamentösen Behandlungen in Fällen, in denen diese nicht indiziert sind. Sowohl die psychiatrischen Kliniken als auch die Demenzstationen in den Heimen benötigen alterspsychiatrisch ausgebildetes Pflegepersonal, welches unter der medizinischen Aufsicht von Fachärztinnen und -ärzten mit Schwerpunkt Alterspsychiatrie tätig ist. Zudem benötigen die Kliniken und Heime spezifisch eingerichtete alterspsychiatrische Abteilungen, welche die Barrierefreiheit, Aktivierung, Teilhabe, Geborgenheit, Mobilität und Orientierung fördern und damit die Rahmenbedingungen schaffen für die nicht-pharmakologischen Interventionen.

2) Der Einsatz von Psychopharmaka, um die nicht-pharmakologische Therapie zu ersetzen – z. B. wegen eines zu tiefen Personalschlüssels –, ist aus medizinisch-ethischer Sicht nicht vertretbar. Psychiatrische Symptome können allerdings den Einsatz von Psychopharmaka notwendig machen, um die Behandlungsziele zu erreichen. Der Einsatz von Psychopharmaka muss indikationsgerecht und zeitlich limitiert in Abhängigkeit vom Verlauf erfolgen. Vor dem Einsatz müssen medizinische Untersuchungen durchgeführt werden und das Auftreten allfälliger Nebenwirkungen muss regelmässig überwacht werden. Darüber hinaus empfehlen wir auch Interaktionschecks der Medikamente, weil ältere Menschen oft mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen. Bei der Auswahl der Arzneimittel gibt es klare Algorithmen auf der Basis einer Nutzen-Risiko-Analyse. Beim Einsatz von Antipsychotika empfehlen wir, die kleinstmögliche Dosis anzuwenden, den Behandlungsverlauf sorgfältig zu überwachen und die Behandlung nicht länger als nötig durchzuführen.

Kassensturz, 24.01.23, 21:05 Uhr

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