Kurz nach zwei Uhr morgens. Bäcker Pascal Rossier ist mit seinem Auto auf dem Weg zur Arbeit. Dann, knapp vor Ostermundigen bei Bern, passiert es: Völlig überraschend springt ein Reh auf die Fahrbahn. Die Kollision ist unvermeidlich, das Tier ist sofort tot.
Interaktiv:
Der Bäcker hatte kein Telefon bei sich. Er beschliesst, an seine Arbeitsstelle zu fahren und von da aus die Polizei zu informieren. Um den Verkehr nicht zu behindern, legt er das tote Tier an den Strassenrand. In der Backstube geht es daraufhin stressig zu und her. Deshalb meldet sich Pascal Rossier erst während seiner ersten Arbeitspause – sechs Stunden später – beim Polizeiposten Ostermundigen. Zu spät, findet die Polizei. Rossier wird für den Nachmittag auf den Posten zitiert.
Busse und Wertersatz für ein totes Reh
Einige Tage später folgt dann schockierende Post von der Staatsanwaltschaft: Einen Strafbefehl mit 300 Franken Busse für die verspätete Unfallmeldung plus Gebühren. Und: 1000 Franken Wertersatz für das tote Reh. Der Bäcker fällt aus allen Wolken: «Mit einer Busse für die verspätete Meldung hab ich gerechnet. Aber dass ich einen Wertersatz von 1000 Franken bezahlen muss, ist für mich gar nicht verständlich.»
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Unfall sofort melden
Der Berner Wildhüter Ruedi Zbinden wird oft zu Unfällen mit Rehen gerufen. Allein im Kanton Bern starben letztes Jahr rund 1800 Rehe durch Kollisionen mit Autos. Die Tiere werden durch das Streusalz auf den Strassen angelockt. Zbinden weiss: «Viele Autolenker plagt nach einem Wildunfall das schlechte Gewissen. Dabei kann ein Fahrer eine Kollision mit einem Wildtier meistens gar nicht verhindern, weil es überraschend passiert.» Wichtig sei jedoch, dass man den Unfall so schnell wie möglich melde: «Eine gesetzliche Bestimmung sagt ganz klar, dass eine Kollision mit einem Wildtier unverzüglich zu melden ist, entweder der Polizei oder dem Wildhüter.»
Rechtsprofessor bezweifelt Richtigkeit
Pascal Rossier findet, genau das habe er getan. Er habe seinen Unfall gesetzeskonform – das heisst so rasch als möglich – gemeldet. Trotzdem bestraft ihn der Kanton zusätzlich zur Busse mit einer Forderung von 1000 Franken Wertersatz.
Zu Unrecht, findet Gerhard Fiolka, Professor für Strafrecht an der Universität Freiburg. Gegenüber «Kassensturz» erklärt er: «Ich gehe davon aus, dass in diesem Fall der Wertersatz nicht geschuldet ist, weil nach der einschlägigen Verordnungsbestimmung vorausgesetzt ist, dass das Tier widerrechtlich getötet wurde.» Pascal Rossier hätte demzufolge das Reh also zum Beispiel absichtlich töten müssen oder gegen eine Verkehrsregel verstossen und so den Tod des Tieres herbeigeführt haben. Beides wird ihm im Strafbefehl nicht vorgeworfen.
Die Berner Staatsanwaltschaft will zum konkreten Fall keine Stellung nehmen. Sie verteidigt ihre harte Haltung grundsätzlich: «Das Totfahren eines Wildtieres durch Kollision mit einem Motorfahrzeug ist per se widerrechtlich. Der Halter des involvierten Motorfahrzeuges haftet unabhängig von einem Verschulden kausal auf Grund der blossen Verursachung des Schadens.»
Je seltener das Tier, desto höher die Busse
Und das gilt nicht nur für Rehe. Je nach Tierart wird der Fahrzeuglenker mit unterschiedlich hohen Wertersatz-Forderungen zur Kasse gebeten (ein paar Beispiele siehe graue Box). Wie die Preise zustande kommen, ist völlig unklar. Doch Strafrechts-Experte Gerhard Fiolka hat einen Verdacht: «Der Wertersatz orientiert sich offenbar nicht an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit von diesen Tieren. Diese Preisliste zeigt relativ deutlich, dass geschützte oder sehr seltene Tiere deutlich teurer sind. Mir scheint, dass dieser Wertersatz eher den Charakter einer versteckten Busse hat.»
Gerechtfertigt oder nicht: Pascal Rossier kann froh sein, dass ihm nicht ein Auerhahn vor das Auto gesprungen ist. Denn dann müsste er vielleicht satte 10‘000 Franken hinblättern. Akzeptieren will der Bäcker die Busse dennoch nicht. Er erhebt Einsprache gegen diesen Strafbefehl.
Zu späte Unfallmeldung: Andere Kantone verlangen weniger
Zum Beispiel:
- Keine Wertersatz in folgenden Kantonen: Schaffhausen, Nidwalden, Thurgau, Aargau, die beide Appenzell, Basel Stadt, Wallis und Graubünden.
- Glarus: Kein Wertersatz, allenfalls könnte ein Automobilist wegen Verletzung des Tierschutzgesetztes gebüsst werden.
- Luzern: 14 bis 15 Franken pro Kilogramm Körpergewicht.
- St. Gallen: 100 bis 200 Franken, je nach Grösse. Die Jagdgesellschaft muss jedoch separat Klage einreichen.
- Zug: 200 Franken, wenn das Reh nicht mehr verwertet werden kann.
- Zürich: 250 Franken. Auch auf separate Klage der Jagdgesellschaft.