Einen steileren Aufstieg, als ihn Jonas Vingegaard in den letzten 4 Jahren hingelegt hat, kann man kaum bewältigen. 2018 arbeitete der frischgebackene Tour-de-France-Sieger noch halbtags in einer Fischfabrik auf der dänischen Halbinsel Jütland.
Ich würde nicht sagen, dass ich faul war. Aber ich war nicht immer der Typ, der am meisten trainiert hat.
«Ich habe das wirklich gemacht», verriet er im vergangenen Jahr der Süddeutschen Zeitung in einem Interview. Im Alter von 18 Jahren hatte er den Job angetreten, seine Karriere als Radrennfahrer war damals ins Stocken geraten. «Ich würde nicht sagen, dass ich faul war. Aber ich war nicht immer der Typ, der am meisten trainiert hat», sagte Vingegaard weiter.
Die Arbeit in der Fabrik sollte ihm allerdings neuen Schub verleihen. Die Motivation, nach der Arbeit aufs Rad zu steigen, sei wieder grösser geworden. Dass er wenige Jahre später den Rad-Olymp besteigen würde, ahnte zu dieser Zeit kaum jemand.
Vom Helfer zum Temporär-Captain
Vingegaard liess sein grosses Potenzial zwar zwischenzeitlich aufblitzen, grosse Siege hatte der 25-Jährige aber kaum zu verzeichnen. 2019, als er seinen ersten Vertrag als Vollprofi bei seinem jetzigen Team Jumbo-Visma unterschrieb, verzeichnete er mit einem Etappensieg bei der Polen-Rundfahrt seinen ersten grossen Erfolg.
Ich dachte immer, dass ich eine Chance habe, die Tour de France zu gewinnen. Aber es wirklich zu tun, ist unglaublich.
Es war allerdings die Tour de France 2021, die den Stern des Vaters einer kleinen Tochter endgültig aufgehen liess. Vingegaard startete wiederum als Helfer von Topfavorit Primoz Roglic in die Frankreich-Rundfahrt. Bereits im Jahr zuvor an der Vuelta hatte er bei seiner 1. Teilnahme an einer dreiwöchigen Rundfahrt seinem Captain zum Gesamtsieg verholfen. Als Roglic die Tour de France 2021 am 3. Tag nach einem Sturz hatte aufgeben müssen, übernahm Vingegaard plötzlich die Rolle des Teamcaptains.
Mit seinem überraschenden, mutigen und beherzten Auftritt schaffte es der Däne als Gesamtzweiter hinter Tadej Pogacar auf das Podest. Was vor einem Jahr noch nicht geklappt hatte, wurde nun Realität. «Ich dachte immer, dass ich eine Chance habe, die Tour de France zu gewinnen. Aber es wirklich zu tun, ist unglaublich», freut sich Vingegaard.
Machtdemonstration und grosses Fairplay
Vingegaard lieferte auf der 11. Etappe eine Machtdemonstration ab, distanzierte Pogacar und übernahm das Maillot Jaune, welches er bis nach Paris nicht mehr abgab. Als wenige Tage später Roglic erneut frühzeitig aussteigen musste, war der Weg für Vingegaard geebnet. Er hatte die uneingeschränkte Unterstützung seines Teams Jumbo-Visma auf sicher und hielt Pogacar auf den restlichen Etappen in beeindruckender Manier in Schach.
Mit dem grossen Sieg vor Augen bewies er auf der 18. Etappe auch grossen Sportsgeist. Als Pogacar in einer Abfahrt stürzte, hätte Vingegaard seinem Verfolger davon- und weitere entscheidende Sekunden herausfahren können. Doch er wartete auf den Slowenen und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei – wie ein wahrer Champion eben.