Ein paar Schreie, dann eine fast gespenstische Stille. Es gibt Momente, da verschlägt es einem buchstäblich die Sprache. Am 11. Januar des vergangenen Jahres hatte Marco Odermatt soeben seinen ersten Abfahrtssieg im Weltcup errungen – ausgerechnet am Lauberhorn. Doch als im Zielraum die Feierlichkeiten beginnen sollten, wurde die Freude bei ihm und dem Publikum arg getrübt: Marco Kohler, Odermatts guter Freund seit Kindheitstagen, stürzte bei seiner Fahrt und musste mit dem Helikopter ins Spital geflogen werden.
Dass sich Stürze und Verletzungen im Skisport nicht ganz vermeiden lassen, ist bekannt. Doch im Fall von Kohler hat der Unfall aufgrund der Vorgeschichte eine besonders tragische Note. Denn der Meiringer war hier schon einmal schwer gestürzt. So schwer, dass es ihn beinahe seine Karriere gekostet hätte.
Nicht aufgegeben
Es war im Jahr 2020, als er als Vorfahrer am Lauberhorn stürzte und in seinem linken Knie fast alles kaputt ging, was kaputt gehen konnte. Kreuzband, Patellasehne und Meniskus waren gerissen, die Ärzte sagten ihm damals, es sei unwahrscheinlich, dass er je wieder Profirennen bestreiten werde.
Doch nach vielen Rückschlägen in der Reha kehrte Kohler nicht nur auf die Piste zurück, sondern feierte im Januar 2023 in Kitzbühel sogar sein Weltcup-Debüt. Und schon in der folgenden Saison überzeugte er mit den Rängen 8 in Gröden und 10 in Bormio.
Kohler war drauf und dran, sich in der Gruppe der besten Abfahrer zu etablieren. Und dann kam dieser Tag in Wengen, als er beim Sprung in den Haneggschuss in Rücklage geriet und stürzte. «Nicht schon wieder Marco», sagte nicht nur Kohlers Freund Odermatt, sondern auch viele andere Athleten und Betreuende im Ziel.
Abgrenzung als Notwendigkeit
Es schien, als würde sich die Geschichte wiederholen. Doch diesmal ging es glimpflicher aus, es war «nur» ein Riss des vorderen Kreuzbandes. Bereits zwei Wochen nach dem Sturz in Wengen meldete sich Kohler und sprach von einem guten Heilungsverlauf und der Hoffnung, die nächste Saison bestreiten zu können.
Kohler kehrte nicht nur zurück, sondern belegte bei der ersten Abfahrt in Beaver Creek gleich den 15. Platz. Kurz vor Jahresende zeigte er auch auf der als besonders schwierig geltenden Piste von Bormio eine starke Leistung und fuhr als 9. mitten in die Spitzengruppe. Notabene nur einen Tag nach dem verheerenden Sturz von Cyprien Sarrazin.
Mentale Vorbereitung
Die grösste Herausforderung für Kohler steht nun mit der erneuten Rückkehr nach Wengen an. Dabei geholfen habe ihm das Mentaltraining. Die gut zweiwöchentlichen Termine mit seiner Trainerin in Interlaken waren im Sommer ein zentraler Teil seines Aufbauprogramms. Das macht er schon seit einigen Jahren, obwohl er sich zu Beginn seiner Karriere noch dagegen gewehrt hatte.
«Ich dachte: Niemand kann mir sagen, was ich denken soll», sagt Kohler rückblickend. Es habe eine Weile gedauert, bis es bei ihm «Klick gemacht» habe und er sich öffnen konnte. «Heute bin ich enorm froh über die Stunden, die ich in mich und meine mentale Gesundheit investiert habe», sagt er. Das erfolgreiche Comeback in diesem Winter sei zu einem sehr grossen Teil auf den Kopf zurückzuführen. «Ich möchte konstant gut fahren und meine Leistung abrufen können. Die Platzierung steht nicht im Vordergrund, sondern dass ich solid fahren kann. Dann wird das Resultat automatisch stimmen.»
Natürlich kann auch das beste Mentaltraining nicht alle Erinnerungen auslöschen. Aber es kann helfen, mit der Vergangenheit abzuschliessen. Kohlers Fazit nach dem ersten Training am Dienstag lautete jedenfalls: «Die Strecke war toll, das Fahren war toll: Es war ein super Tag.» Ein guter Start für das grosse Ziel, mit Wengen Frieden zu schliessen.