In Daina Langners Labor geht es eher gemütlich zu. Ihre Patienten sitzen auf einem Sesselchen am Fenster, lesen Worte vor wie «Esel, Igel, Herz, Bote» oder plaudern ein paar Minuten am Stück über ihren letzten Wochenendausflug. Dabei tragen sie ein Headset: Alles, was sie sagen, wird mit einem Computer aufgezeichnet.
Die Patienten wollen wissen, ob sie eine Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben. Und Daina Langner will es herausfinden – anhand der Stimme. «Menschen mit ADHS sprechen anders, unrhythmischer, weniger berechenbar», sagt die Forscherin. Die Stimmanalyse könnte als biologischer Marker zur Diagnose von ADHS herangezogen werden – zusätzlich zu den sonst üblichen Fragebögen und psychologischen Interviews.
Starker Einfluss auf die Muskulatur
Daina Langner leitet die Arbeitsgruppe Human Bioacoustics am Experimental and Clinical Research Center ECRC des Charité Universitätsspitals in Berlin. Menschen mit ADHS, erklärt sie, können sich nur schwer konzentrieren. Permanent werden sie von neuen Reizen abgelenkt. Im Alltag kann das dazu führen, dass sie Briefe nicht zu Ende schreiben, Termine vergessen oder sogar Unfälle verursachen. Anders gesagt: Das Chaos im Gehirn wirkt sich auf die Steuerung der Muskeln aus – und das mache sich zuerst bei der Stimme bemerkbar. «Der Stimmapparat besteht aus hunderten von kleinen Muskeln, die wesentlich empfindlicher reagieren als die langen Arm- oder Beinmuskeln», sagt Langner.
Manche Unterschiede beim Sprechen sind sogar für Laien hörbar. Daina Langner spielt ein Beispiel ab: Zwei Probanden zählen von eins bis zehn. Während der Sprecher aus der (gesunden) Kontrollgruppe die Zahlen monoton hintereinander vorliest, gestaltet der ADHS-Patient seine Aufzählung fast schon dramatisch, mit Variationen in Tempo und Sprechmelodie. «Das ist spannend vorgetragen», urteilt Langner, «alles andere wäre ihm selbst wahrscheinlich viel zu langweilig».
Kleinste Schwankungen entscheiden
Allerdings ist lebendiges Sprechen allein kein ausreichendes Kriterium für eine ADHS. Die Wissenschaftler setzen zusätzlich auf Stimmmerkmale, die für uns nicht wahrnehmbar sind – und die wir nicht aktiv beeinflussen können. Etwa, wie schnell die Stimmlippen beim 'A' aufeinander schlagen. Dank einer speziellen Software können Schwankungen beim Tempo oder Rhythmus bis in den Millisekundenbereich detektiert werden.
Auf diese Weise haben Daina Langner und ihre Kollegen Sprechproben von mehr als 1500 Menschen untersucht und ein bestimmtes Muster an Merkmalen ausgemacht, das für Menschen mit ADHS ganz typisch ist. Je mehr Merkmale erfüllt sind, desto wahrscheinlicher ist die Diagnose ADHS. Umgekehrt haben die Psychologen auch schon etlichen Patienten Entwarnung geben können. In dem Fall muss die Suche nach den Ursachen für die psychischen Probleme weitergehen.
Audiodiagnose hat Potenzial
Der Psychologe Johannes Michalak von der Universität Hildesheim findet die Herangehensweise der Berliner spannend, rät aber zur Vorsicht: «Entscheidend für die Diagnose ADHS ist, dass der Patient selbst unter der Störung leidet, dass er sich beeinträchtigt fühlt». Darüber könne die Stimme allein keine Auskunft geben. Deshalb solle die Stimmanalyse nur ergänzend herangezogen werden, meint Michalak.
Schon 2014 könnte die Aufnahme- und Analysesoftware für ADHS im normalen Praxisalltag eingesetzt werden. Das Prinzip lässt sich möglicherweise auch auf andere neurologische Erkrankungen übertragen: Weltweit arbeiten Forschergruppen daran, auch Depressionen, Parkinson oder die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) anhand der Stimme zu erkennen.